Die Roland-Chroniken III: Eltern

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Tox W 450-A hatte keine Luft mehr zum Quietschen. Ihre Armbewegungen wurden immer schwerfälliger, die Zeiträume, in denen ihr Kopf komplett unter Wasser war, immer länger. W 450-B dagegen hatte früher mit dem Schreien aufgehört und mit dem Versuch, sich an der glatten Wand des Beckens festzuhalten, und besaß deshalb noch mehr Kraft zum Schwimmen. Im Labor war kein anderes Geräusch zu hören als das Spritzen und Keuchen der Aliens und das Piepen der Anzeigen. Agnes Beagle beugte sich vor, um die Werte vom Computerbildschirm abzulesen. Eigentlich brauchte sie eine neue Brille – mit 79 Jahren war sie nicht mehr die Jüngste –, doch das musste warten, bis das Geld für den modifizierten Gen-Code-Manipulator zusammen war. Agnes seufzte. Tox bekamen so selten Zwillinge, es wäre eine Schande, sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen.
Die Tür des Labors zischte auf, und noch bevor sich Agnes ganz umgewandt hatte, blickte sie in den Lauf einer Laserwaffe. „Hände weg vom Kontrollpult!“, befahl eine Stimme, etwas verzerrt vom Außenlautsprecher der Rüstung. „Was beim Einen...“ Agnes machte eine unwillkürliche Bewegung, den Bildschirm zu verdecken, als der Trupp gerüsteter Eindringlinge durch den Raum schwärmte. „Moment mal, Hände weg...“ Sie spürte einen Stoß im Rücken und im nächsten Moment lag sie auf dem Bauch, die Wange an den kalten Boden gepresst. „Keine Bewegung!“, zischte ein zweiter Gerüsteter, der neben ihr kniete und ihr eine Waffe ins Genick drückte. Agnes konnte förmlich spüren, wie ihr Blutdruck nach oben schnellte. Das Atmen fiel ihr schwer.
Aus dem Augenwinkel sah Agnes, dass sich ein Gerüsteter an den Apparaturen zu schaffen machte – wie konnten diese Kerle überhaupt Zutritt zum Labor bekommen haben? Offenbar hatte schon vorher jemand das System gehäckt. „Das dauert zu lange“, rief der Mann, der sie zuerst bedroht hatte. „Versucht sie so rauszuziehen!“ Es gab etwas Tumult, dann konnte Agnes einen Blick auf eines der beiden Tox-Mädchen erhaschen, das vor lauter Schwung gemeinsam mit einem der Eindringlinge zu Boden ging und regungslos auf ihm liegen blieb, während das Wasser aus ihrem vollgesogenen Fell über seinen Brustpanzer lief. Wut stieg in ihr hoch: Das ganze Experiment umsonst! Aber sie wagte nicht, ihren Protest laut kund zu tun.
Jetzt erschien in Agnes‘ eingeschränktem Blickfeld eine in einen einfachen Overall gekleidete junge Frau mit schwarzen Haaren und asiatischen Gesichtszügen, die das Alienkind vorsichtig auf den Boden und in die stabil Seitenlage rollte. Sie überprüfte die Lebensfunktionen und verschwand dann aus dem Bild, wahrscheinlich, um das gleiche bei dem Zwilling zu tun. „Leben sie?“, fragte der Mann, offenbar der Anführer der Bande. „Natürlich leben sie, Sie Idiot“, rutschte es Agnes heraus. „Tot nutzen sie doch gar nichts.“ Einen Moment lang verstärkte sich der Druck der Waffe. „Schnauze“, knurrte ihr Bewacher. Der Kommandierende blickte auf sie herab. „Sie werden noch Gelegenheit bekommen, sich für Ihre Taten zu rechtfertigen, Frau Beagle. Bis dahin schweigen Sie besser.“ „Was erlauben Sie...“ Sein Tonfall wurde schneidend. „Schweigen Sie!“

Agnes stolperte, als sie die Bewaffneten durch die Tür in ihr Privatquartier stießen, und Leopold fing sie auf. Er war ein großer Mann und obwohl er sein Leben lang nie besonders auf seinen Körper geachtet hatte, sah man ihm seine 80 Jahre kaum an. Agnes löste sich schnell aus seinem Griff. „Leopold, was geht hier vor?“ Sie sah sich im Wohnbereich um. Offensichtlich war das Zimmer gründlich durchsucht worden. Papierunterlagen fehlten ebenso wie sämtliche Gegenstände, die man als Waffen hätte verwenden können. Agnes ging zum Computerterminal an der Wand hinüber und versuchte, ihn zu aktivieren.
„Das hat keinen Sinn“, sagte Leopold. „Sie haben das ganze System unter ihre Kontrolle gebracht. Das einzige, was hier noch funktioniert, ist der Essensgenerator. Außerdem beobachten sie uns“, er nickte zu einer Überwachungskamera hinauf, die heute Morgen garantiert noch nicht da gewesen war.
„Wie sieht dein Quartier aus?“, fragte Agnes.
„Keine Ahnung“, sagte ihr Mann. „Sie haben mich direkt an Beobachtungsposten zwei überwältigt und hier her geschleppt. Es ist wahrscheinlich einfacher, nur ein Quartier zur Arrestzelle umzufunktionieren. Wenigstens haben sie uns nicht in eine von deinen Tox-Zellen gesperrt.“
Agnes fuhr herum. „Was willst du mir damit sagen? Dass alles meine Schuld ist?“
Leopold packte sie am Arm und zog sie auf das Sofa. Sein Mund war dicht neben ihrem Ohr. „Sprich leise, oder willst du ihnen gleich die Beweise liefern, die sie brauchen?“
„Beweise für was denn?“, fauchte Agnes. „Wir tun hier weiß Gott nichts Illegales. Wer sind diese Typen überhaupt?“
„Ich weiß nicht“, murmelte Leopold und warf nervöse Blicke zu der Kamera hinauf. „Sieht mir alles sehr offiziell aus, aber ich kenne keinen dieser Leute. Es gab doch Gerüchte, dass Smisson sich versetzen lassen wollte...“
„Jeder Verwalter dieses Planeten will sich versetzen lassen“, fuhr ihm Agnes dazwischen. „Und egal, wen die Ingenieursgilde eingesetzt hat, sie haben uns immer in Ruhe unsere Arbeit machen lassen. Warum sollte das diesmal anders sein?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht hätte ich mich rechtzeitig darum kümmern müssen zu erfahren, wer als nächstes den Posten übernimmt. Neue Verwalter wissen gern, was vor sich geht. Wir hätten ihn einfach rechtzeitig informieren können und er hätte gar nicht das Gefühl gekriegt, uns überprüfen zu müssen...“
„Nun, wo sind denn deine tollen Kontakte? Weißt du eigentlich, dass diese groben Klötze gerade eine wichtige Phase des Zwillings-Experiments unterbrochen haben?“
Jetzt wurde auch Leopolds Stimme lauter. „Du und deine verdammten Experimente! Nur deshalb sitze ich hier auf diesem Planeten fest...“
„Oh, das sind ja ganz neue Töne!“ Agnes löste sich von ihrem Mann und verdrehte theatralisch die Augen. „Das habe ich wirklich noch nie gehört: Ich war Jahrgangsbester, ich hätte an der Universität des Imperators persönlich lehren können. Seit 40 Jahren immer diese Leier! Du hast zu dem missglückten Versuch ebenso viel beigetragen wie ich. Niemand hätte sich darum geschert, aber es ist nicht besonders öffentlichkeitswirksam, wenn ein Adeliger auf seiner Überraschungsinspektion feststellen muss, dass sein Sklavennachwuchs einen ... Unfall hatte.“ Sie schauderte bei der Erinnerung. „Das ist eine alte Geschichte“, fuhr sie in ruhigerem Ton fort. „Wir haben uns mit unseren Studien hier einen guten Namen gemacht im Bereich der Alienforschung. Und ich bin sicher, wenn der neue Verwalter sein Ego befriedigt hat, können wir unsere Arbeit wieder aufnehmen. Schade nur um die verlorene Zeit.“ Agnes stand auf. „Ich werde jetzt duschen. Wenn die einer alten Frau beim Ausziehen zuschauen wollen, ist das ihr Problem.“
In den folgenden zwei Tagen kümmerte sich niemand um sie, und trotz ihrer tapferen Worte wurde Agnes immer nervöser. Leopold versuchte, die Wachen, die wahrscheinlich vor der Tür standen, auf sich aufmerksam zu machen, doch niemand sprach mit ihnen. Essen musste ihnen niemand bringen und auch ihre Medikamente waren noch da. Zwei Tage auf engstem Raum mit ihrem Mann, während noch so viel Arbeit vor ihnen lag! Agnes fauchte Leopold bei jeder Gelegenheit an wie ein Katze, die ihr Revier verteidigt. Leopold murmelte ständig Beschwerdebriefe an seine Freunde in der Gilde vor sich hin. Einmal drückte er den Notfallknopf, doch nicht einmal dann öffnete sich die Tür. Eine anonyme Stimme teilte ihnen lediglich über Lautsprecher mit, dass der Missbrauch des Notfallalarms beim nächsten Mal Konsequenzen haben werde.
Am Vormittag des dritten Tages kam ein Fünfertrupp Bewaffneter in den Raum. Der Anführer hatte das Visier geöffnet, doch Agnes erkannte ihn erst als den Angreifer aus ihrem Labor, als er sie ansprach. „Frau Beagle, Herr Beagle, der neue Eigentümer dieses Planeten ist jetzt bereit, Sie zu empfangen. Folgen Sie mir.“
Agnes merkte, dass sie unwillkürlich Leopolds Hand ergriffen hatte, und ließ ihn etwas verlegen wieder los. Sie sah in seinem Gesicht die gleiche Überraschung, die sie empfand. Eigentümer? Wer war reich genug, einen Planeten zu kaufen? Oder vielmehr: Wer sollte irgendein Interesse an Hinterwald haben?
Als die bewaffnete Eskorte sie in ihr Büro führte, spürte Agnes wieder Zorn in sich hochsteigen. Da saß dieser arrogante Snob und tat, als wäre er hier zu Hause, empfing sie wie gemeine Bittsteller, nein, schlimmer, wollte seine Gefangene verhören, und das an ihrem eigenen Schreibtisch! Noch schlimmer! Er hatte eine Tox mit hereingebracht! Agnes musterte das Alien, das hinter dem Stuhl stand und ihren Blick wie selbstverständlich erwiderte. Sie war sich sicher, dass es nicht von Hinterwald kam. Was sollte es hier?
„Ich bringe Agnes und Leopold Beagle zum Verhör... Edler von Ravelnikov“, sagte der Truppenführer. Irgendwie klang es seltsam, wie er den Titel betonte. „Danke, Hassan“, sagte der Mann, ohne den Blick von dem Computerbildschirm zu nehmen. „Bitte bleibt in der Nähe, falls ich euch brauche.“
Ein aufgenommenes Mitglied im Hause Ravelnikov also. Agnes musterte den Mann unauffällig, während sich die Tür hinter den Bewaffneten schloss. Er war groß und breitschultrig, das schwarze Hemd mit militärisch aussehenden Schulterstreifen spannte sich über muskulösen Oberarmen, als er die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte stützte. Er konnte ebenso gut Mitte dreißig wie fünfzig Jahre alt sein, sein braunes Haar in modischem Kurzschnitt zeigte an den Schläfen das erste Grau, das kantige Gesicht war wettergegerbt. Der Ausdruck darauf war unlesbar, doch irgendetwas beunruhigte Agnes zutiefst. Ihr Blick wanderte noch einmal zu den Armen zurück. Ein Hemdsärmel war ein Stück nach oben gerutscht und gab den Blick frei auf einen schutzzeichenbewährten Handgelenkschoner aus Leder, glänzend vor Alter. Das rührte an einem Punkt in Agnes‘ Erinnerung... Wo hatte sie...
Als der Mann schließlich den Blick hob und sie ansah, keuchte Leopold neben ihr. „Roland?“

Roland hatte nicht unbedingt vorgehabt, seine Eltern durch die lange Wartezeit im Arrest zu zermürben – obwohl es ihn auch nicht störte. Vielmehr brauchte er selbst die Zeit, um sich zu überlegen, wie er ihnen gegenüber treten sollte. Nicht zum ersten Mal bedauerte er, dass er Juros Angebot, ihn zu begleiten, nicht angenommen hatte. Aber nein. Das war etwas, das er alleine durchziehen musste.
Es war ein seltsames Gefühl, als er nach der Landung des Schiffs durch die Straßen von Backside fuhr, das sich in den vergangenen 25 Jahren kaum verändert hatte. Ein Vierteljahrhundert! Wenn er daran dachte, was er in all der Zeit gesehen und erlebt, wie er sich verändert hatte. Oder wie schnell die neue Kolonie auf dem Eisasteroiden vor seinen Augen gewachsen war. Doch hier lebten die Menschen immer noch ihr gleiches, eintöniges Leben. Selbst die Gesichter auf der Straße waren die gleichen. Jünger vielleicht, unbekannt vielleicht, aber letztlich die gleichen.
Roland versuchte sich an den Tag zu erinnern, an dem er von hier aus in das Universum aufgebrochen war, nichts weiter vor Augen als unendlich viele Jahre in einem Internat. Ein mürrischer, verängstigter Vierzehnjähriger, der unter einer Mischung aus Heim- und Fernweh litt. 25 Jahre lang war er nur mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen... Nein, das stimmte auch nicht, das war wieder seine alte Vorliebe, die Selbstgeißelung. Doch es wurde wirklich Zeit, sich um seine Familie zu kümmern. Und Agnes und Leopold in ihre Schranken zu weisen. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was er mittlerweile von seinen Eltern gehört hatte...
Roland hatte sich mit seiner Rüstung unauffällig in der Truppe eingereiht und Hassan das Reden überlassen. Der Edle von Ravelnikov würde seine neuen Besitztümer erst in Augenschein nehmen, wenn verschiedene Sicherungsmaßnahmen durchgeführt worden seien, erklärte dieser dem aufgeregten Bürgermeister von Backside. So lange werde er an Bord des Schiffes bleiben. Das gebe außerdem allen Personen von Rang und Bedeutung die Gelegenheit, sich in Ruhe auf eine Audienz in der kommenden Woche vorzubereiten, und allen Geschäftsleuten die notwendige Zeit, ihre Berichte zusammen zu stellen und zur Einsicht vorzulegen. Damit würde Roland zwar gleich den Ruf eines paranoiden Exzentrikers weg haben – doch da war er in seiner neuen Adelsfamilie in bester Gesellschaft. Was erst die Obersten der Ingenieursgilde dachten, weil er als Belohnung für seine Dienste einen wirtschaftlich völlig nutzlosen Planeten verlangt hatte, wusste der Eine! Egal: In den kommenden Monaten würde Roland damit beschäftigt sein, mit Mitox‘ Hilfe Hinterwald nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Doch jetzt gab es Dringenderes zu tun, und dabei konnte er keinen speichelleckenden Bürgermeister im Schlepptau gebrauchen.
Roland fuhr im zweiten Jeep und lotste seine Truppe zur Tox-Reservation. Die erste wirkliche Veränderung, die er auf Hinterwald sah, war eine mehr als beunruhigende: Ein riesiger Zaun durchschnitt die Landschaft. „Kaum Kameras, viel Stacheldraht und Strom“, meldete Bill über Funk. „Deine Eltern wollten wohl sparen, was?“ „Solang du uns unbemerkt reinbringen kannst...“ „Willst du mich beleidigen? Das Sicherheitssystem ist ein Witz, das könnte ich dir überlassen!“ Roland seufzte. Bill war in den vergangenen Jahren immer runder und unverschämter geworden. Jetzt saß er auf der „Verras“ und weigerte sich, Hinterwald auch nur zu betreten. Natürlich war der Superhäcker von dieser Mission heillos unterfordert – aber Roland wollte sich lieber sein Gejammer anhören als sich mit den Resten des Aha-Teams rumzuärgern, die das Alter auch nicht weise gemacht hatte.
Er starrte auf das Hinweisschild am Tor, das jeden darüber informierte, dass hier Tox-Land begann und Unbefugten Zutritt verboten war. Seine Eltern mochten das Ganze als Schutz gegen die Außenwelt tarnen wollen, doch ein Blick genügte um zu sehen, dass diese Mauer eher die Aliens drin als Bedrohungen draußen halten sollte. Ich hätte früher zurückkommen müssen, schoss es Roland durch den Kopf. Er biss die Zähne zusammen. Sandrose, die auf dem Beifahrersitz saß, beugte sich vor und strich ihm sacht über die Finger, die sich um das Lenkrad krampften. Roland versuchte ein Lächeln, da öffnete sich das Tor und er gab Gas. „Bill, ich brauch eine Aufstellung, wo sich Agnes und Leopold aufhalten, wo die wissenschaftlichen Assistenten oder mögliche Wachen. Gib das Ganze gleich Hassan rein.“ „Ich weiß, ich weiß, ich hab den Plan mit ausgearbeitet, schon vergessen?“, dröhnte es zurück. „Hassan hat alles, was er braucht. Lass Papa nur machen und fahr deine Fellmutanten besuchen.“
An der Weggabelung Richtung Labor hielten sie kurz an. „Der Weg zum Tox-Dorf ist frei“, sagte Hassan. „Da wirst du niemanden treffen außer den Aliens.“ „Gut“, antwortete Roland und stieg aus dem Jeep. Er kletterte auf die Ladefläche des nächsten Lastwagens und aktivierte den Ausstiegsmodus seiner Rüstung. „Äh, Roland, ich muss noch mal fragen...“, sagte Hassan. „Nein, musst du nicht“, unterbrach ihn Roland. Er ließ seinem Kumpel gegenüber ungern den Vorgesetzten raushängen, aber er war zu unruhig, um Zeit auf Höflichkeiten zu verschwenden. Wie oft sollte er noch sagen, dass hier keinerlei Gefahr von den Tox drohte! Er würde nicht mit an der Spitze einer Truppe Gerüsteter einmarschieren und die armen Leute noch mehr erschrecken. „Gebt mir Bescheid, wenn ihr alles unter Kontrolle habt“, sagte Roland, schwang sich wieder hinter das Lenkrad und fuhr davon.
Wie oft war er diesen Weg gelaufen, während in ihm die Wut über seine Eltern und die Vorfreude, seine Freunde zu treffen, miteinander rangen. Und jetzt? Erst, als der Jeep in einer Kurve schlingerte und Sandrose mit einem überraschten Quieken gegen ihn fiel, merkte Roland, dass er viel zu schnell fuhr. Er bremste fast auf Schritttempo herab und atmete tief durch. „Wie wär’s, wenn wir von hier aus laufen?“, schlug Sandrose vor.
Auf den ersten Blick sah das Dorf genau so aus, wie Roland es in Erinnerung hatte: Die Holzhütten mit den Reetdächern, die Eingänge zu den unterirdischen, kühlen Sommerräumen und Nahrungslagern, die Gestelle, an denen dünne Streifen Wildschweinfleisch zum Trocknen hingen. Roland atmete tief ein. Ungeahnt heftig stieg das Verlangen in Roland auf, die Schuhe von sich zu schleudern, einfach loszurennen, in Papayas Haus zu stürmen... Aber etwas fehlte. Die Geräusche. Die Kinder. Das Leben.
Roland bleib stehen, Sandrose gleich neben sich, und lauschte. Er spürte, dass sich die Bewohner in den Hütten zusammen drängten. Viele behaarte Wesen auf engem Raum, die scheinbar gleichzeitig die Luft anhielten. „Graufell? Ahne Rotzeder?“ Roland hatte rufen wollen, doch ihm gelang nur ein Flüstern. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Hallo Freunde, keine Angst!“, rief er auf Toxanisch. „Ich bin’s, Roland.“ Was dachten sie, wenn sie ihn da auf dem Dorfplatz stehen sahen? Er war ein Mensch, ein Fremder, nicht mehr das Kind, das hier gespielt hatte, er war der Sohn der Leute, die ihnen viel Leid gebracht hatten... „Graufell? Bist du da?“ Seine Stimme brach wieder.
In diesem Augenblick zuckte Sandroses Nase. Sie stieß ein seltsames Keuchen aus und rannte los, auf allen Vieren, was sie sonst nie tat, rannte auf eine der nächst gelegenen Hütten zu und verschwand darin. Ohne nachzudenken, sprintete Roland hinterher, die Hand am Griff seiner Laserpistole. Er blieb am Eingang stehen, doch noch bevor sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnen konnten, war ihm klar, dass es Freudenschreie waren, die er hörte. Es war ein Tumult an Fellkugeln, die sich gegenseitig rieben, boxten, mit den Nasen anstießen, und Sandrose mittendrin. Im nächsten Moment hatte sie sich aus dem Wust gelöst, sprang Roland an und warf ihn rückwärts zu Boden. „Du hast es geschafft“, schluchzte Sandrose an seiner Brust. „Sie sind es, meine Familie, ich hätte nie gehofft...“ Als Roland wieder Luft bekam, umarmte er seine Freundin und lachte. Sie war so außer sich vor Freude, dass sie ihre natürliche Schüchternheit, die sie in all den Jahren ihrer Bekanntschaft nie ablegen konnte, vollkommen vergessen hatte.
Er lachte noch immer, als in seinem Blickfeld weitere Tox erschienen und auf ihn herunter schauten. „Roland?“, quiekte eine. „Papaya!“ Roland setzte sich auf und schob Sandrose sanft von sich herunter. Alt war sie geworden und dünn, aber es war seine Papaya, und jetzt konnte auch Roland seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Es war gut, dass Roland Yumi Tian, seine Alien-Assistenzärztin, mitgebracht hatte. Es stellte sich heraus, dass viele Tox krank waren, es aber nicht wagten, die großzügige medizinische Versorgung der Beagles in Anspruch zu nehmen. Doch zu zweit würden sie die Leiden bald im Griff haben, war sich Roland sicher, als er eine erste Visite machte. „Es war so, als hätten deine Eltern nur darauf gewartet, dich aus dem Weg zu haben, um mit ihren Experimenten anzufangen“, erklärte ihm Steinkraut – sein Kumpel Steinkraut war jetzt Vater und trug eine ewig mürrische Miene zur Schau. „Ahne Rotzeder und viele Alte sind in ihre Klinik gegangen, aber kamen nicht mehr heraus. Und erst die Kinder bei komplizierten Geburten...“ Steinkraut schüttelte sich. „Niemand glaubt, dass sie einfach so gestorben sind“, zischte er.
Roland schluckte trocken. „Steinkraut... Wo ist Graufell?“ Der Tox legte die Ohren an. „Oh, dein Kumpel Graufell ist ein Held“, sagte er. „Keiner weiß, wie es ihm gelungen ist, sich auf ein Schiff zu schleichen und von hier zu verschwinden. Ich weiß nur, dass er abgehauen ist und uns im Stich gelassen hat!“ Wie ich, dachte Roland. „Das kannst du nicht wissen“, sagte er laut. „Vielleicht ist er in Gefangenschaft geraten und konnte nicht zurückkommen. Ich werd sehen, was ich rausfinden kann.“ Beim Einen, hat mich Graufell wirklich gesucht? Wollte er mich um Hilfe bitten? Roland erinnerte sich an den Dämon, der ihm während der Ährengarden-Expedition genau das angekündigt hatte, und schauderte.
Zwei Tage lang zögerte Roland, seinen Eltern zu begegnen. Er ließ sich von Bill Dateien entschlüsseln und ackerte sich durch die präzisen Dokumentationen der scheußlichsten wissenschaftlichen Arbeit, die er je gesehen hatte, vor allem, weil es seine Eltern gewesen waren, die sie verbrochen hatten. Experimente mit verschiedenen Stufen der Schwerkraft, bis die inneren Organe der Opfer versagten, um zu überprüfen, ob Tox auch als Arbeiter auf Planeten mit schwierigeren Bedingungen einsetzbar waren. Experimente mit Strahlung, Experimente über das Schmerzempfinden, der Versuch, Klone herzustellen, die sich – ähnlich wie beim Menschen – mit einem Wort wieder zerstören ließen... Er sah die Zellen, in denen die Versuchs-Aliens eingesperrt wurden, und das zweite Labor, in dem diverse Körperteile zur weiteren Untersuchung eingelegt waren. Nein, die zwei Tage machten es nicht einfacher, Agnes und Leopold gegenüber zu treten.

„Roland“, keuchte Leopold. „Ein Mitglied des Hauses Ravelnikov! Das... das ist mehr, als wir je zu hoffen gewagt haben, als wir dich...“ In der Art, wie der Mann hinter dem Schreibtisch den Mund verzog, erkannte Agnes endlich den störrischen Teenager wieder, als den sie ihn zuletzt gesehen hatte.
„Nichts von dem, was ich erreicht hab, hab ich auch nur irgendwie euch zu verdanken“, unterbrach Roland seinen Vater. „Ist das alles, was dich interessiert, Leopold? Dass ich jetzt zum Adel gehöre?“
„Nicht in diesem Ton, junger Mann!“, sagte Agnes unwillkürlich. „Was soll das hier? Tauchst plötzlich auf, lässt uns verhaften, hältst es tagelang nicht für nötig, mit uns zu reden und willst uns dann nur beleidigen?“ Sie holte tief Luft, konnte sich aber nicht beherrschen. „Wie stand dein Vater da vor Direktor Pirotte, als du nach drei Jahren miserabler Schulleistungen einfach abgehauen bist? Wie stand ich da, wenn Kollegen ihren wissenschaftlichen Korrespondenzen ein schadenfrohes ‚Es geht ja das Gerücht, Ihr Sohn hätte es zum Vorarbeiter einer landwirtschaftlichen Einrichtung geschafft, Frau Beagle‘ angehängt haben? Und selbst das nicht mehr seit... was, seit 18 Jahren? Stattdessen taucht plötzlich dieser unverschämte Sklavenhändler auf und meint, in deinem Auftrag eine Ladung Tox hierher liefern zu sollen, weißt du, was uns das gekostet hat? Keine einzige persönliche Nachricht an deine Eltern, wir kommen um vor Sorge...“
„Überanstreng dich nicht, Agnes“, sagte Roland in einem Tonfall, der so eisig war wie sein Blick. „Ich habe gelesen, was für schwere Zeiten ihr beiden durchgemacht habt. Und wenn ich nur einen Bruchteil davon geahnt hätte, hätte ich Sandroses Familie überall hingeschickt, nur nicht hierher. Früher hab ich gedacht, du wärst gleichgültig, aber jetzt weiß ich, du bist einfach grausam. Ich hätte Professor Becker von Anfang an besser zuhören sollen.“
„Becker?“ Agnes‘ Lachen klang in ihren eigenen Ohren schrill vor Unbehagen. „Du hast den alten Trottel getroffen? Ich dachte, er wäre auf seinem dummen Farmland, oder wie der Planet hieß, mitsamt dem Kontinent in die Luft geflogen. Kaum zu glauben, dass so ein Kleingeist mein Doktorvater...“
„Kleingeist!“ Roland sprang auf, bebend vor Wut. „Er ist der einzige, der mir noch Hoffnung gemacht hat, dass nicht alle Wissenschaftler lebensverachtende Monster sind.“ Bevor seine Mutter zurückzucken konnte, hatte Roland die Laserwaffe auf sie gerichtet. „Ihr habt nichts mit Becker gemeinsam“, sagte er leise. „Was ich hier gelesen hab, langt tausendmal, um euch gleich standrechtlich zu erschießen, und ich habe jede Autorität, das zu tun.“
Plötzlich schlangen sich ihm haarige Arme von hinten um den Bauch. Sandrose murmelte etwas, doch Roland brauchte eine Weile, bis er sie über das Rauschen in seinen Ohren hinweg hören konnte. „Roland, Roland, Roland“, flüsterte sie. „Es sind deine Eltern, bitte, Roland, du bist nicht wie sie, beruhig dich bitte, Roland...“ Roland schaute Agnes und Leopold an, wie sie da standen, aneinander geklammert, klein und verschrumpelt, die Augen voll Furcht, klein und alt und völlig, völlig fremd. Er atmete tief durch und legte die Waffe mit zitternden Händen vor sich auf die Schreibtischplatte.
Roland drückte kurz Sandroses Finger, bevor sie ihn losließ. Dann griff er nach dem Kommunikationsgerät. „Hassan, kommt ihr bitte?“, sagte er und war froh, dass seine Stimme fest klang. Schon marschierte die Truppe herein und flankierte seine Eltern, die sich immer noch gegenseitig stützten. „Helft den beiden, ein paar Klamotten zusammen zu packen. In drei Tagen nehmt ihr die Verras und liefert meine Eltern und das gesammelte Beweismaterial bei der Liga für Rechte friedlicher Aliens ab. Bonasèra und der Rat sollen entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Solange ich sie nie wieder auf Hinterwald sehen muss, ist mir alles recht.“
Als die Bewaffneten sie zur Tür hinaus führten, hatte sich Agnes so weit gefasst, dass sie das letzte Wort behalten konnte. „Liga für Alienrechte? Du bleibst ein Dummkopf, Roland, wenn du glaubst, der Imperator...“ Roland würdigte sie keiner Antwort.
„Danke“, sagte er, als er wieder allein mit Sandrose war. Dann stützte er einen Moment den Kopf in die Hände und schloss die Augen. War er erleichtert? Traurig? Er wusste es nicht. Mit einem Ruck setzte sich Roland auf und machte sich daran, für Bill eine kurze Zusammenfassung zu erstellen, was er über Graufell wusste und was bei Recherchen nützlich sein konnten. Am liebsten würde er selbst mit der Verras mitfliegen und sich gleich auf die Spur seines Freundes setzen. Aber Roland hatte die Verantwortung für Hinterwald übernommen, eine Aufgabe, die ihn hier festhielt. Zumindest vorläufig.


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