Der Kapitän und ein Lenkrad aus Holz

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Amy:

Ich glaube, ich hab das den beiden gar nicht so gezeigt, aber ich habe mich wirklich gefreut - war fast gerührt! -, dass Fjuna und Cassie spontan bei unserem Auftritt zur Eröffnung dieses Landhaus-Cafés aufgetaucht sind. Noch nie hat sich jemand mal einfach so dafür interessiert, was ich an meinem Sonntag tue. Die Mädels sind nicht mal große Fans meiner Stilrichtung, aber trotzdem fahren sie in dem Klapper-Bus bis da raus und setzen sich über eine Stunde hin. Da nehme ich es ihnen auch nicht übel, dass sie auf meine Rechnung den sündenteuren Kaffee trinken wollten (der Veranstalter hat eh alles übernommen). Als ich sie in der Pause an einem Tisch zwischen den ganzen piekfeinen Gästen entdeckte, musste ich lachen: Sie sahen in ihren handgefärbten, mundgeklöppelten Stoffen aus wie Papageien in einer Pinguinschar. Ich muss mich wirklich mal daran machen, Fjuna diesen kryptischen Brief entschlüsseln zu helfen, den ihr alter Meister ihr hinterlassen hat, bevor er verschwand. Rana vom Circle-Gildehaus hatte das Schreiben zum Tribunal mitgebracht und einige Erinnerungen wachgerüttelt. Es ist nun klar - auch Fjuna selbt -, dass ihr irgendwie 40 Jahre abhanden gekommen sind. Das letzte, woran sie sich erinnert, ist ein Streit mit diesem Toomstone im Jahr 1969. Der Meister wollte nicht, dass sie wegging, um ihrer Familie aus irgendeiner Klemme zu helfen. "Widersetze dich mir niemals", steht unter anderem in dem Brief - was für ein Arschloch! Hat Toomstone seine ungehorsame Schülerin als Strafe für ein paar Jahrzehnte ins Umbra verbannt? Leider konnte ich mich in der angespannten Situation im Gildehaus nicht so recht in das Schreiben einfühlen, sondern bekam nur vage Eindrücke von einem vieläugigen Wesen in rosa Wolken, ein Feind, vor dem Toomstone warnt... Mich würde das ja wahnsinnig machen, nicht zu wissen, was mit mir passiert ist, aber Fjuna scheint nach einer kurzen Phase der Unruhe wieder zu ihrem ausgeglichenen (bekifften) Selbst zurückgefunden zu haben. Aber ich werde ihr helfen!

Im Anschluss an das Konzert sind wir noch ein wenig in dem parkähnlichen Garten des Anwesens spazieren gegangen, als mir mit einem Mal furchtbar Übel wird und Fjuna fast vor Schmerzen schreit. Irgendwas ist an der Barriere zwischen der Geisterwelt passiert, die hier sehr dünn ist, sagte sie. Und als dann eine Explosion vom Parkplatz her zu hören war, rannte Cassie auch schon los. Tatsächlich war es ihr Busschen, das wie wild schaukelte und rauchte. Zum Glück hatten die beiden es ein gutes Stück entfernt am Straßenrand geparkt. Ich musste Cassie festhalten, damit sie nicht direkt zu ihrem geliebten Huckelchen lief, und warf einen Blick von Ferne durch die Wand auf die Ladeklappe. Was für ein skurriles und beängstigendes Bild: Ein alter Mann mit Augenklappe und Werkzeuggürtel liegt auf dem Fahrzeugboden, offenbar verletzt, und um ihn herum richten sich die Kabel aus den zerrissenen Wänden auf wie Schlangen, bereit, auf ihn hinab zu stoßen. Wir reißen die Hecktüren auf und zerren den Kerl heraus, er spuckt Blut, ist nur halb bei Bewusstsein und fragt panisch: "Ist die Tür geschlossen?" Cassie ist immer noch mit ihrem dummen Auto beschäftigt und ihr fällt nichts besseres ein, als den mann zu fragen, wie er in ihren Bus kommt. Aber bevor der antworten kann, schießt ein riesiger Krakenarm aus dem Loch im Fahrzeugboden! Ich warf mich zur Seite und versuchte, die Tür zuzuknallen - aber es war klar, dass es nicht wirklich diese reale Tür war, die "geschlossen" werden musste! Erstaunlich zielstrebig schnappte das Viech nach Fjuna - nach der, die dem Umbra am nächsten ist von uns - und versuchte, sie auf die andere Seite zu ziehen. Meine Güte, da konnte ich sie aber mal kämpfen sehen! Ehe wir ihr noch in irgendeiner Form zur Hilfe eilen konnten, hatte sie die Tentakel gesprengt, das Ding zurück ins Umbra gejagt und begann, mit einem Tanz die Mauer zur Geisterwelt zu kräftigen. Ich glaube, ich werde dieses Mädel nicht mehr so leicht unterschätzen. Nur weil sie immer einen etwas abwesenden Eindruck macht, heißt das nicht, dass sie nicht zulangen kann, wenn es drauf ankommt.

Der Verletzte entpuppte sich - Zufall oder Schicksal - als Kapitän Timothy Harris, Freund oder Vorgesetzter von Steve und Nadja aus dem "No Future". Es war nicht ganz einfach, aus den wenigen Satzfetzen schlau zu werden, die er von sich gab. Aber ich erkläre mir das so: Er war mit seinem Schiff "Trafalgar" in der Geisterwelt unterwegs, um irgendwelche Untersuchungen zu machen, offenbar mit einem Haufen mechanischer Helfer, die den Angriff von dem Kranken-Teil nicht "überlebten". Virtueller Adept hin oder her, dass Harris Cassie und ihre Heilmagie nicht an sich ranlassen wollte, war schon seltsam. Angst vor Zauberei? Ha! Doch der ganz gewöhnliche Erste Hilfe-Kasten erfüllte auch seinen Zweck. Cassies Bus dagegen war nicht nur halb zerfetzt, sondern hatte irgendeine seltsame Zeitumstülpung erfahren: Das Lenkrad hatte sich in Holz und der Tacho in eine Uhr verwandelt. Da wohl nur noch Abschleppen übrig. Harris hörte nicht auf, mir die ganze Zeit zu sagen, dass er mich irgendwoher kannte. Da keimte ein Verdacht in mir auf: Ob meine Eltern...? Zum Glück schaffte ich es, Cassie und Fjuna dazu zu überreden, den Bus am anderen Ende der Leine zu lenken. Auch wenn sie nette Menschen sind, meine Eltern gehen sie einfach nichts an. ich weiß ja bis heute nicht, was wirklich passierte, vor fast 20 Jahren. Und die Andeutungen von Harris ließen mich in einem Gefühlsstrudel aus Wut, Angst und Erschöpfung zurück. Eine Marsmission, die schief ging. Irgendwelche Gildeninterna der Society, von denen er angeblich nichts weiß. Dass meine Eltern die einzigen waren, die starben - ein Unfall? dass er erst vor zwei Wochen noch Funkkontakt hatte mit der "anderen Seite". Mit den Mördern meiner Eltern? Ist das Verbrechen schon verjährt, dass die Magier jetzt mit denen auf Plauderbasis sind? Ich bin immer davon ausgegangen, dass es die Technokraten waren, diese Mafia, die die ganze Erde umspannt und unseren Freiraum jeden Tag kleiner werden lässt mit ihren Überwachungskameras und biometrischen Ausweisen... Ich wollte mehr hören und dann auch wieder nicht, ich war auf einmal so müde und wollte nur in mein Bett. Aber so sehr ich die Gedanken wegzuschieben versuche, sie tun nur so, als wären sie fort, und lauern irgendwo im Dunkeln.

Wir ließen Cassies Bus an einer Werkstatt stehen und schafften den Kapitän, der mittlerweile eingeschlafen war, in die Kommune. Wir lotstten ihn möglichst unauffällig an ner Gruppe Leute vorbei, die da am Lagerfeuer saßen und angeregt diskutierten - über den Grünheitsgrad der Blätter oder so etwas, dachte ich. Zu unserer aller Überraschung war Fred mittendrin. Und dann hörten wir, was das Thema war: Die Öko-Terroristen wollen den "Gherkin" mitten in der Londoner Innenstadt sprengen!



Cassie:

Nach den ereignisreichen letzten Tagen hatten wir uns einen gemütlichen Sonntagnachmittag wirklich verdient. Und weil Amy immer von ihrer Klarinettenspielerei erzählt hatte, wollten wir das ganze mal live hören. Also zockelten wir in meinem Bus raus zu diesem Landcafe, in dem Amy zur Eröffnung auftreten sollte. Eine wirklich angenehme Gegend hier, schön grün und parkähnlich. Das Publikum hatte natürlich einen Altersdurchschnitt von 50 plus, der rapide nach unten sackte, als Finni und ich in den Hof der Hotelanlage traten und uns an eines der Kaffeetischchen setzten.
Während ich noch beim Anblick der Kuchenpreise innerlich aufschrie (dafür hätte man anderswo eine ganze Torte gekriegt!), kam schon ein Kellner und Finni bestellte Kaffee auf Amys Rechnung. Oh Mann, wie kam sie denn auf die Idee? Ach, einfach lächeln und nicken. Freundlich lächeln und ignorieren hilft auch gut bei den irriterten Blicken der piekfeingeschniegelten, größtenteils weiblichen Gäste.
Amys Musik ist zwar nicht so ganz meine Richtung, aber recht interessant. Weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal zuvor eine Klarinette gehört habe. Im Musikunterricht in der Schule? Finni hätte ja am liebsten die alte Linde, unter der die Bühne aufgebaut war, angestubst und aufgeweckt, um sich mit ihr zu unterhalten, aber das ließ sie dann doch lieber sein. Zu viele Leute hier.
Als Amy uns bemerkte, mußte sie doch grinsen. Wir tigerten noch ein bißchen durch die Natur rund um das Hotel, und gerade als wir uns doch langsam an den Aufbruch machen wollten, knallt es. Ich denk noch ‚irgend so ein blöder Vergaser’ und wie ich mich umschau, kommt der Krach samt einer Rauchwolke doch tatsächlich aus der Seitenstraße, wo MEIN BUS steht!

Natürlich ploffen ein bewußtloser Mann und ein krankenarmiges Irgendwas aus der Geisterebene ausgerechnet in meinem Bus auf und nicht in irgendeinem Normalo-PKW! Warum sollte uns auch irgendwas so normales wie eine Autopanne passieren? Mein Bus ist voller Qualm, hat im Boden ein Loch, der Typ drinnen ist verletzt und immer noch ohnmächtig, und seit wann bitte verhalten sich Elektrokabel wie boshafte Schlangen? Was zur Hölle ist mit meinem Bus passiert? Was hat der Kerl mit ihm angestellt?
Kaum dass wir den Mann rausgezerrt haben, sind die ersten Krakenarme da. Nach ihnen schlagen nützt nichts, ich hau einfach durch. Blöde Geister! Finni hat es einfacher, sie gibt dem Vieh ordentlich Saures. Gemeinsam mit dem seltsamen Gerät, das der Mann benutzt, schließen sie den Spalt ins Umbra wieder.

Zurück bleibt ein lädierter Bus. Und ein lädierter Kapitän, der sich weigert, sich mit Magie heilen zu lassen. Komischer Kauz. Und komische, aber interessante Geschichten, die er erzählte. Ich wußte nicht so recht, ob ich auf ihn oder auf den Kraken sauer sein sollte wegen dem armen Bus. Aber wenn man vor so einem Viech flüchtet, dann ist einem ziemlich egal, wo man aus der Geisterwelt rauskommt.
Trotzdem - das würde eine schöne Reparaturrechnung geben, der fuhr ja keinen Meter mehr. Und außerdem war irgendwas seltsames mit ihm passiert. Das Holz-Lenkrad fand ich ja richtig cool, aber ein Tiefenmesser statt nem Tacho? Wahrscheinlich spielte das alte Radio jetzt auch nur noch diese Unter-Wasser-U-Boot-Töne ab, wer wußte das schon? Puh, die von der Kommune werden sich echt freuen, wenn ich denen sage, ich hätte unseren Bus geschrottet. Dabei war ich’s nicht mal.
Aber was halfs. Amy schleppte den Klapperbus zur nächsten Werkstatt ab. Und dann fuhr sie uns samt dem Captain Harris zur Gärtnerei. Zum „No Future“ (Hatte ich schon mal erwähnt, dass der Name echt negativ klingt? So schlimm ist der Schuppen doch gar nicht!) wollte er nicht, obwohl er mit den Leuten dort in Verbindung steht. Na gut, dann sollte er einfach die Nacht über in meinem Zimmer schlafen. Platz ist ja genug. Und wenn er schlief, konnte er sich auch nicht dagegen wehren, dass Finni und ich ihn ein bißchen verarzteten.

Und obwohl ich dachte, nun hätten wir wirklich genug Aufregung für einen Tag gehabt, hatte der richtige Ärger noch gar nicht angefangen.


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