Angriff auf die Kommune

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Amy:

Was für ein Gefühl, als der Hubschrauber schlingernd abdreht! Und die Polizisten abziehen. Und Fjuna aus dem Gebüsch kiecht, von oben bis unten mit Farbe bemalt. Erleichterung und Triumph und Angst vor meiner eigenen Courage. Wir haben gegen die Technokratie gekämpft und gewonnen! Wenigstens diese kleine Schlacht gegen diese Handlanger... Oh Gott, was wird als nächstes geschehen? Ich konnte in der Eile nur ganz rudimentäre Vorkehrungen treffen, um meine Spuren zu verwischen. Wenn sie jetzt Cassie auf dem Schirm haben, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie herausfinden, dass ich auch eine "Realitätsverbrecherin" bin. Es gab einfach zu viele Zeugen bei meiner Erweckung, auch wenn sie beschlossen haben, die Ereignisse lieber zu vergessen... Wie kann Käpt'n Harris nur vorschlagen, mit dem Feind einen Deal zu machen? Vielleicht bildet sich die Technokratie ein, die Menschen nur schützen zu wollen, aber in Wirklichkeit wollen sie nur die Macht und alle ausschalten, die anders denken wie sie. Sie haben meine Eltern getötet und Harris spricht von Respekt vor dem Gegner! Ich habe wieder die Gelegenheit verstreichen lassen, von ihm mehr zu erfahren, habe die Müdigkeit vorgeschoben und die dringlichere Frage, was mit Cassie und Fjuna passieren soll, wenn sie nicht in die Kommune zurück können. Aber ich glaube, ich habe einfach Angst davor, die Geschichte zu hören, die mir Onkel David damals nicht erzählen wollte.

Es schien, als hätten wir noch ein wenig Zeit, uns auf die Konfrontation mit den Werwölfen vorzubereiten. Noch neun Tage bis zum 11. September, aber was sollten wir mehr tun als das, was wir schon ins Rollen gebracht hatten? Um mich abzulenken, dachte ich, ich könnte mir am Mittwochmorgen erst mal in Ruhe den Zettel von Fjunas Meister vornehmen und nachspüren, was er sich gedacht hat beim Schreiben. Der Pförtner hat langsam genug davon, dass ich zu allen möglichen Tageszeiten im St. John's zum Proben auftauche und beantragte einen eigenen Schlüssel für mich. Ein Schlüssel, mit dem ich jederzeit Zugang habe zu dem akustisch wertvollsten Konzertsaal in ganz London - und ganz nebenbei zu meinem Knoten! Die Atmosphäre und mein Lieblingsinstrument trugen auch gleich dazu bei, dass ich viel erfolgreicher war als am Freitag im Gildehaus. Toomstone, der Superheld! So hat er sich offenbar gesehen: Auf dem Weg, einen großen Widersacher zu stellen. Und das kleine, überforderte Mädchen - sprich: Fjuna - sollte ihm ja nicht folgen, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Dieser "Many Eyed", von dem ich vorher einen kurzen Eindruck aufgefangen hatte (Der Kapitän und ein Lenkrad aus Holz), scheint ein durchgeknallter Marodeur zu sein, der auf dem Weg lauert und mit dem es Fjuna zu tun bekäme, wenn sie sich auf die Spur ihres Meisters setzt. Und sie soll im Umbra dem Pfad des Mondes folgen - was auch immer das heißt. Pf - auf jeden Fall hat sich Toomstone offenbar keine großen Gedanken gemacht, dass Fjuna zum Zeitpunkt seines Weggangs schon 15 Jahre verschwunden war. Weil er genau wusste, wo sie sich aufhielt, weil er sie dorthin verbannt hatte? Oder hat sich Fjuna, wie sie glaubt, im Umbra verlaufen, als sie von Toomstone wegrannte? Vielleicht will er auch nur, dass sie das glaubt, weil er dann Recht behält, seine Schülerin rumzukommandieren!

Fjuna hatte auf jeden Fall einiges, woran sie knabbern musste, deshalb bat sie mich, sie zum Meditieren zurück in die Gärtnerei zu fahren. Cassie hatte an dem Morgen mal wieder die Uni besuchen wollen (dass sie ihren Status als Studentin überhaupt noch hat, wundert mich, wenn sie es mit den Veranstaltungen immer so locker nimmt wie in den zwei Wochen, die wir uns kennen). Doch dann ruft sie an und fragt, ob ich sie in einem Café treffen kann. Ihre Stimme klang ganz anders als sonst und ich dachte: Ah, die Miss Marples ermitteln wieder. Aber es war viel schlimmer: Cassie wurde bereits von der Technokratie verfolgt. Irgend so ein Typ von der Stadtplanung oder so hatte sie in sein Büro gelockt und versucht zu beeinflussen - und dabei natürlich enttarnt, als sie sich wehrte. Oder so ähnlich, das muss sie mal in einer ruhigeren Stunde berichten. Ich spürte schon Panik in mir hochsteigen: Wahrscheinlich hatten die schon ihr Handy angezapft und mitgehört, dass sie mit mir gesprochen hatte! Allein mit den technischen Mitteln, die selbst den normalen Menschen bekannt sind, konnten sie uns schon längst im Café geortet haben! Also haben Cassie und ich erst mal unsere Handys zerlegt - aber nicht bevor sie eine SMS aus der Kommune bekam, dass schon eine Polizeieinheit vorfuhr und ihre Auslieferung verlangte. Sie musste sofort untertauchen!

Cem ist ein Schatz, er hat mir ohne groß zu meckern sein Auto überlassen. Der Mann hat einen Ring am Finger - jetzt ahne ich, warum er bald zwei Wochen frei nimmt, aber ich hatte keinen Nerv, mich jetzt mit seinem Privatleben zu beschäftigen. Erst mal kutschierte ich Cassie ins "No Future", wo wir zum Glück auch Steve und Nadja antrafen - wahrscheinlich gehen die nie raus. Aber der Ort war genau das, was Cassie brauchte, und Steve genau der Mann für die richtigen Tipps: Er warnte uns, dass die Technokratie mit dem Hubschrauber, den sie über der Kommune kreisen ließ, Cassies Knoten aufspüren könnten. Mittlerweile hatte ich mich genug gefangen, um mich geistig in die Kommune begeben zu können. Die Polizei war schon dabei, Cassies Sachen durchzuwühlen, und weil ich mir nicht sicher war, wie viele Technokraten mit dabei sind, die die Bedeutung einschätzen konnten, habe ich erst mal das einzige Magie-Buch, das sie dort hatte, für die Betrachter als unwichtig erscheinen lassen. Fjuna zu finden, war sehr viel schwieriger, obwohl ich doch genau wusste, wo ich sie abgesetzt hatte. Sie muss sich echt gut getarnt haben. Ich bat sie, den Hubschrauber zu stören, doch es war klar, dass ich so schnell wie möglich Hilfe holen musste, am besten von der Gilde.

Ich hatte nur nicht mit Cassies Sturheit gerechnet. Sie wollte einfach nicht einsehen, dass es für alle Beteiligten besser ist, wenn sie in Deckung bleibt. Erst war ich sauer auf dieses starrköpfige Kind und sehr versucht, ihr den geistigen Befehl zu geben, sich nicht vom Fleck zu rühren. Aber ich hatte auch Skrupel und sie war drauf und dran, davonzulaufen und sich in noch größere Gefahr zu bringen. Eigentlich konnte ich sie auch verstehen - immerhin war es ihr Zuhause, das da gestürmt und ihre Nachbarn und Freunde, die bedroht wurden. Sie hatte niemals das "Polizei, dein Freund und Helfer" verinnerlicht - und wer bin ich, dass ich ihr das vorwerfe, nur, weil ich nie in der Position war, mich mit dem offiziellen Gesetz für eine gerechte Sache anzulegen? Nun, die Sesselpupser in der Gilde würde eh nicht so schnell in Gang kommen, also machte ich mich mit Cassie auf, nachdem die sich erst mal in einem männlichen Asiaten verwandelt und in Cems Jogginganzug gesteckt hatte. Das ist schon ein ziemlich guter Trick - ich wünschte, ich hätte mein Gesicht auch verstecken können, aber ich konnte nur dafür sorgen, dass die Aufmerksamkeit von mir abgleitet - so lange meine Kraft ausreicht. Als wir bei der Kommune ankamen, gingen schon die Bulldozer in Stellung, um Häuser und Bäume platt zu machen. Meine Kontakte in der Stadtverwaltung stimmten mir am Telefon zwar zu, dass es eine Schande sei, diesen grünen Freiraum für Künstler (na ja...) platt zu machen, aber sie könnten nichts tun: Die ganze Operation lief auf der Basis Gefahr in Verzug und Anti-Terror-Gesetze. Verfluchte Instrumentarien der Technokraten! Dass das Kulturamt die Medien informieren wollten, damit der Missbrauch dieser Gesetze nicht ungesehen über die Bühne geht, war nur ein schwacher Trost.

Eigentlich kann ich immer noch nicht ganz glauben, dass ich das wirklich getan habe. Erst einmal habe ich die Bulldozer-Fahrer dazu gebracht, unaufmerksam zu sein und die Geräte ineinander zu lenken. Cassie wollte sich den Hubschrauber vornehmen: Da fuhr der eine Bordkanone aus. Wie im Film! Aber das war Realität, auf einer öffentlichen Londoner Straße! Der Krieg hat mich endgültig eingeholt. Aber solche Gedanken mache ich mir erst jetzt - vorhin handelte ich einfach nur: Gestärkt von Steves Einschätzung, meine Magie sei in diesem Fall wirksamer als seine, weil sie sich nicht auf Technik-Ebene bewege, griff ich den Schützen direkt geistig an. Ich muss ihn regelrecht ausgeknockt haben - ob er einen bleibenden Schaden davon getragen hat? Aber es war Notwehr! Trotzdem drückte der Kerl noch den Knopf, doch seine Salve verfehlte uns und traf den Ü-Wagen vom Fernsehen, der gerade angebraust kam. Cassie schaffte es irgendwie, den Hubschrauber wegzudrücken. Dass jetzt die wütenden Reporter anfingen, live die brutale Vorgehensweise der Polizei zu kommentieren, sorgte offenbar für die Entscheidung der Technokraten, die Aktion abzublasen. Seit der Tomlinson-Sache sind sie wohl vorsichtiger mit der öffentlichen Meinung. Der Hubschrauber drehte ab, endlich!

Cassie spielte noch vor der Fernsehkamera ihre Rolle als schockierter asiatischer Tourist und ich beschloss, meinen Namen nicht noch tiefer mit der Angelegenheit zu verstricken, und lieber nachzusehen, wie es Fjuna ging. Als mir in der menschenleeren Kommune dann dieser Baum entgegen kam, hab ich erst mal einen hysterischen Lachkrampf bekommen vor Erleichterung. Und der fleischfressenden Pflanze Bert schulde ich noch eine Flasche Mineralwasser. Ich sollte mich besser daran halten... Wer kann es mir verdenken, dass ich sehr misstrauisch war, als dann dieser bepelzte Typ in seiner Limo auftauchte und uns zu einem geschäftlichen Gespräch bitten wollte? Seymour Jackson heißt er offiziell - und ertrug es erstaunlich gelassen, dass ich ihn stattdessen in mein Auto packte und ihn zu einem Theater mitnahm, wo wir hin und wieder auftreten. Dort konnte Fjuna wenigstens duschen. Was ist das für ein Kerl? Eine Investitionsfirma, die sich sehr für verschiedene gemeinnützige Projekte engagiert, aber nie öffentliche, wo der Staat zu genau hinsehen würde... Er will die Kommune kaufen, angeblich um sie zu bewahren. Einzige Bedingung: Alle Neubauten müssen von ihm genehmigt werden. Kein Geschäftsmann ist so ein Sonnenschein! Und dass er bereits mit den anderen "relevanten Gruppen" wie den Naturgeistern und den Werwölfen gesprochen hat und dass er sofort durchschaute, wie ich mich geistig mit den anderen beiden beriet, machte mich noch nervöser. Ehrlich gesagt, ich traute mich danach nicht mehr, ihn abzuchecken. Magisch wirkte er nicht. Mafia, die da ihr Geld waschen will? Nun, in vier Tagen will er eine definitive Antwort, da bleibt noch Zeit, ihn zu durchleuchten. Eins nach dem anderen. Steve und Nadja haben mit der Unterstützung von Amethyst und unserem "Wilden" Jenkins schon mal Cassies Polizeiakte gelöscht. Was wir mit der Erinnerung von diesem Richards machen, ist noch ne andere Frage...



Cassie:

Den Auftrag, mich mit einem gewissen Mr. Richards vom Bauamt wegen der Abwassergeschichte in Verbindung zu setzen, hatte ich bei dem ganzen Hin und Her der letzten Tage total verpennt. Deshalb fand ich es äußerst praktisch, dass der Mann mir auf dem Unigelände entgegenkam und mich gleich in sein Büro mitnahm. Es hätte mir spanisch vorkommen sollen – wieso sucht der mich dort? – aber wer noch Bombenleger und die letzte Vorlesung im Kopf hat, kann ja nicht an alles denken.
Sein Radiosender hätte mich mißtrauisch machen sollen. Diese unterschwellige negative Beeinflussung (die Welt ist schlecht, die Jugend kriminell, blabla). Aber ich merkte mir nur die Nummer des Senders, um den mal unter die Lupe zu nehmen, wenn dieser neue 11. September vorbei war. Die Liste von Dingen, die ich demnächst mal erledigen will, wird immer länger ...
Und dann war es auch schon zu spät.
Ich sitze in seinem Büro und fange gerade an, ihm von dem Studentenprojekt zu erzählen, da unterbricht er mich auch schon (Er hat „niedlich“ dazu gesagt! Grrr, also echt mal!). Er holt meine Polizeiakte raus und meint, dass er die Sache im Sinne der Stadt auch auf anderem Wege regeln könne. Was geht denn jetzt ab? Woher hat der das? Ist das denn überhaupt erlaubt? Die wollten unsere Kommune abreißen und nur weil ich mich an meine ganz spezielle Eiche angekettet habe, um dieser Schwachsinnsidee im Weg zu sitzen, nennt man das Landfriedensbruch? Also ich nenn das Notwehr. Dieser Schnösel kann ja wohl vergessen, dass er mich so dazu kriegt, dass ich diese neueste Stadtbauidee toll finde oder für ihn in der Kommune mit durchsetze.
Aber es wurde noch besser – jetzt fing er an, mich über die Gedanken zu beeinflussen. Na super! Was ist denn das für’n Kerl? Während ich ihn noch abblocke, kriege ich mit, dass er Verstärkung ruft. Wahrscheinlich hätte ich ihm irgendwas um die Ohren hauen sollen … aber so weit kam mein Kopf in dem Moment gar nicht. Der Gedanke ‚Weg hier!’ war schneller.
Und ich hatte genügend Verfolgungsfilme gesehen. Der Fahrstuhl ist immer zu langsam und auf der Treppe kommen sie einem auch immer entgegen. Also nur eine Etage tiefer und dann erstmal verstecken und die Lage sondieren.
Wärs nicht so ernst gewesen, hätt ich ja lachen können. Die Typen, die als Verstärkung kamen, dachten sonstwas von mir. Realitätsverbrecherin? Aha? Bin ich hier gerade ernsthaft irgendwelchen Technokraten über den Weg gelaufen? Damit fiel dieser Tag definitiv unter „ich hätte heute gar nicht erst aufstehen sollen“. Nichts wie weg hier! Ich machte aus mir ein rothaariges Mädel, das hoffentlich nicht zu sehr nach Sally aus der Kommune aussah, schlich mich aus dem Bürogebäude und nahm die erstbeste U-Bahn.

In meinem Kopf ging alles drunter und drüber. Was würde jetzt passieren? Waren sie mir schon auf der Spur? Würden sie in der Kommune auf mich warten? Wo konnte ich jetzt hin, wen kannten sie noch nicht? Durfte ich im Gildehaus anrufen oder sollte ich mich von da lieber fern halten? Mann, Fred, du hättest mir echt mal ein bißchen mehr über diesen verrückten Verein erzählen können!
In der Innenstadt stieg ich aus, wurde wieder ich und suchte mir erstmal ein Cafe. Von dort klingelte ich Amy an und erklärte ihr kurz, was mir passiert war. Amy bekam fast einen Panikanfall, aber sie war so schnell da, dass ich nicht mal meinen Kaffee trinken konnte. Verlassen kann man sich auf sie, das ist sicher. Sie entriß mir mehr oder weniger mein Handy, um es auseinanderzunehmen. Und dann fuhren wir zum „No Future“. Zum ersten Mal kam der Name mir passend vor. Ich wußte selber gerade gar nicht so recht, wohin mit mir und was mit mir und meiner Gärtnerei als nächstes passieren würde.
Steve war da und er hatte natürlich Internet. Super! Erstmal Kontakt mit Leuten aus der Kommune aufnehmen und sie vorwarnen. Vor allem Finni vorwarnen. Aber zu spät. In der Kommune ist schon die Hölle los. Ein ganzes Polizeiaufgebot sucht nach mir! Wegen Terrorismusverdacht. Das ist so absurd! Wenn die wüssten, dass die echten Ökoterroristen in meinem Nachbarhaus wohnen und wie nah sie eigentlich an ihnen dran sind … Aber nein, man will mich und nimmt die Gärtnerei auseinander. Die sind doch total irre! Und Sally schrieb, sie könnten das Gewächshaus mit Finni nicht finden. Keine Ahnung, wie Finni das geschafft hat, aber die ist echt gut! Als Sally schrieb, dass die Polizisten die Gärtnerei stürmen, brach die Verbindung ab und ich malte mir die schlimmsten Dinge aus.
Amy tarnte irgendwie das Gildenhausbuch, das in meinem Zimmer lag. Und sie wollte, dass ich hierbliebe, in Sicherheit und in Deckung. Aber! Das! Geht! Nicht! Ich halts hier nicht aus, während die Polizei und diese Technokratiefuzzies mein Zuhause auf den Kopf stellen und am Ende noch meinem Knoten was tun! Außerdem war Finni noch da. Und so riß ich den beiden einfach aus.
Amy ließ sich zum Glück doch noch überreden, mitzukommen, obwohl sie vor diesen Technokraten ganz schön Panik hatte. Ich war gerade viel zu sauer und besorgt um meine Leute, um noch Angst zu haben. Diesmal war ich ein Japaner im Trainingsanzug, als wir losfuhren. In Cems Trainingsanzug. Wenn Amys Manager wüsste, hehe … An der Gärtnerei wurden meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Bagger im Anmarsch. Und ein Hubschrauber. Jetzt reichts.
Während Amy die Bagger sich ineinander verkeilen ließ, versuchte ich, den Hubschrauber über der Gärtnerei zu stören und wegzuschieben. Aber so ganz wollte das nicht funktionieren. Das Ding war verdammt störrisch! Um den Irrsinn des heutigen Tages komplett zu machen, fuhren die jetzt auch noch ein Gewehr aus und ballerten in der Gegend herum. Geht’s noch? Zum Glück bog gerade ein Fernsehwagen um die Ecke und bekam die Ladung ab.
Es gibt Zeiten, da gibt es nichts Besseres, als die Medien direkt vor Ort. Während die Kollegen anfingen, einen Live-Bericht über die Polizeigewalt auf Londons Straßen zu drehen, gelang es mir endlich, dem Hubschrauber einen ordentlichen Schubs zu geben, und er drehte ab. Auch die Polizei hatte langsam genug von der erfolglosen Suche und zog sich zurück. Phuuu. Mann, was für ein Tag! Was ist mit Finni?!
Amy ging in die Gärtnerei, ich mußte der Sicherheit wegen warten und gab als Japaner im Trainingsanzug ein Interview. Was man hier als Tourist so alles mitansehen muß, fürchterlich!
Als Amy zurückkam, hatte sie nicht nur mein magisches Buch, sondern auch eine seltsam angemalte Finni dabei. Und meine Eiche steht noch. Mann, bin ich froh! Obwohl ich nicht wissen will, wie mein Zimmer jetzt aussieht. Dass sie sämtliche Pflanzen aus dem Fenster geschmissen haben, reicht mir. Ich hätte nicht übel Lust, Pete und seinen Werwolfsfreunden zu stecken, wo man auch ganz gut eine Bombe platzieren könnte … ich wüsste da ein Bürogebäude, das würde sich echt gut dafür eignen ...
Dass ausgerechnet jetzt so ein gutbetuchter Typ im dicken Schlitten anhielt und uns mitnehmen wollte, um geschäftliches betreffs der Kommune zu besprechen, machte mich ziemlich mißtrauisch. Keine Ahnung, was das für ein Kerl war. Mir behagte der Gedanke nicht, die Kommune zu verkaufen. Und dass er uns nur 4 Tage Zeit ließ für die Entscheidung. Ohne unsere Mitbewohner hinzuzuziehen wollte ich da eigentlich gar nichts sagen. Und er schien mit uns Erwachten auch einiges zu tun zu haben. Wir müssen ihn erst einmal gegenchecken, bevor ich auch nur ansatzweise nicke.

PS:
Ich habe keine Ahnung, wo ich heute nacht mein Haupt zur Ruhe betten darf. Die Technokratiepolizei ist zwar weg, aber ich bin immer noch auf deren Liste. Ich hoffe, mir fällt etwas ein, mit dem ich diesen Mr. Richards gehörig ärgern kann, ohne gleich wieder gejagt zu werden! Und wenn meine Mutter heute fernsieht oder morgen Zeitung liest, dann will ich gar nicht wissen, was sie wieder von mir denkt.

Tatsächlich auf der Flucht

Das ist nicht mein Gesicht, dachte Cassie, als sie sich selbst in der Fensterscheibe der U-Bahn betrachtete. Sie blickte in das Gesicht einer blassen jungen Frau, das von roten Locken umrahmt wurde. Fremd – aber die Augen waren immer noch ihre. Beunruhigte, besorgte, wütende Augen. Ihre Stimmung kippte alle paar Atemzüge, während sie abwechselnd aus dem Fenster starrte und aufmerksam die Leute um sich her beobachtete. Besonders an den Haltestellen. Wer stieg ein? Irgendwo Sonnenbrillen? Irgendwo einer von diesen blöden Kerlen im Men-in-Black-Outfit?
Cassie saß genau zwischen zwei Türen, mit der Option, aus der einen zu verschwinden, sollte in der anderen jemand Verdächtiges auftauchen. Kamen sie gleichzeitig durch zwei Türen, dann musste sie sich was anderes überlegen. Aber bisher waren es nur die normalen Nachmittags-U-Bahn-Fahrer, obwohl ihr jedesmal das Herz schneller schlug, wenn die Türen sich rumpelnd öffneten.
Eben fuhr die U-Bahn kurz ans Tageslicht. Von ferne sah Cassie Gebäude, die wie der Bürokomplex aussahen, in dem sie vor kurzem erst gewesen war. Mistkerl! dachte sie. Was sollte das denn?! Hatte er es vorher gewußt, bevor er mich in der Uni abholte? Oder ist es ihm erst aufgefallen, als er anfing, in meinem Kopf rumzupfuschen, und ich ihn nicht ließ? Lackaffe! Wofür hält der sich? Was tut der mit meiner Polizeiakte? Ich sollte echt meine Mutter fragen, ob sowas überhaupt erlaubt ist, die ist schließlich Anwältin! … Also ernsthaft … Landfriedensbruch??? … Darf man sich nicht mal mehr aus Protest an einen Baum ketten, oder was? Und überhaupt ist das schon über ein Jahr her! … Wenn ich meine Mutter frage, tickt die wieder aus und denkt, ich hab irgendwas ausgefressen. Oder ich mach sie damit nur auf meine Familie aufmerksam. Ach Blödsinn, wenn der meine Akte hat, dann kennt er die doch sowieso schon.
Cassie zog ein finsteres Gesicht und hätte am liebsten gegen irgendwas getreten. Gegen ein Schienbein. Gegen das Schienbein von diesem blöden Mr. Richards!
Realitätsverbrecherin? Pff. Zu viel Orwell gelesen, diese Technokraten! Ist wahrscheinlich deren Bibel. Hatte Fred nicht mal sowas erwähnt? Oh Mann, dass ich denen mal übern Weg laufe …
Cassie rieb sich die Stirn. Sie hatte ihrem Mentor Fred eine SMS geschickt, dass sie heute vorbeikommen würde. Aber ging das jetzt einfach so? Würden die zwei Typen weiter nach ihr suchen? In der Gärtnerei? Fred hätte ihr ruhig mal ein paar Worte zu so was sagen können. Durfte sie zum Gildehaus marschieren oder war denen das noch gar nicht bekannt? Führte sie am Ende diese Truppe auf eine Fährte, von der man sie besser fernhielt? Oder hatte sie einfach zu viele schlechte Filme gesehen?
Nein. Das eben war echt gewesen. Unerwartet, aber verdammt echt. Er … sie … wer auch immer … sie wollen die Gärtnerei umbaggern! Meine Gärtnerei! Das Gewächshaus! Finni killt dich! Soviel ist sicher! Meine Eiche! Ich sag dir, kratz sie auch nur an und ich werde dir die fiesesten Krankheiten auf den Hals hetzen, die ich in meinem Buch nur finde! … Verflixt … weiß der … wissen die, dass auf dem Dorfplatz ein Kraftknoten ist? Mein Knoten?’
Rums, die U-Bahn hielt wieder. Cassie schreckte hoch, ihr Blick huschte über die Eintretenden. Sonnenbrillen? Ja. Bunte. Anzugträger? Ja. Gelangweilt dreinblickende Büromenschen. Die Bahn fuhr an, und die Verdächtigen hielten sich mit stoischen Mienen an den Haltegriffen fest. Jeder blickte an jedem vorbei und keiner zu ihr.
Cassie war das nur recht. Sie ging ihre Möglichkeiten durch. Von der Gärtnerei sollte sie sich heute vielleicht lieber fernhalten. Von der Wohnung ihrer Eltern und ihrer Großmutter wohl auch. Aber sie mußte den Leuten Bescheid geben, was hier gerade ausgeheckt wurde. Gildenhaus 1 und 2 oder Amys Wohnung. Zur Not der Schuppen, wohin Amethyst sie letztens mal mitgenommen hatte. Es behagte Cassie gar nicht, ihr Zuhause zu meiden. Sie hatte schließlich nichts getan. Aber sie konnte überhaupt nicht sagen, was diese Technokratentypen eigentlich vorhatten. Sie einsperren? Tss … Dimensionslöcher … da konnte sie wirklich von Glück reden, dass sie davon rein gar nichts verstand. Mit so einer Fluchtidee hätten die sie womöglich sofort geschnappt, weil sie genau damit rechneten. Nicht mit einem Magierfrischling wie ihr. Obwohl das an sich cool wäre. Schwups – von einem Ort zum anderen und die Bahnfahrt könnte sie sich schenken. Sie bräuchte dann nicht mal mehr den bunten alten Hippie-Bus. Das wäre allerdings schon wieder schade.
Cassie verzog das Gesicht. Die junge rothaarige Frau im Fensterglas sah angespannt und besorgt aus. Und sie trug immer noch Cassies Klamotten. Was passiert hier mit mir?, fragte sich Cassie mit einer Mischung aus Verunsicherung und Widerwillen. Das heißt jetzt nicht, dass ich die Gärtnerei für die nächsten Tage oder Wochen meiden muß, oder? Aaaargh, verdammt nochmal, warum bin ich mit Gedankenmagie nicht so gut wie Amy! Das hätte mir vielleicht helfen können ... Ich hab keine Lust, mich zu verstecken! Überhaupt nicht! Ich muß aus dieser Rothaarigen raus! Das reicht mir jetzt langsam. Ich steig an der nächsten Haltestelle aus, schick den Leuten von der Kommune ne Mail und klingle Amy an. Finni ist ja bei ihr, die muß auch wissen, was los ist. Mitten durchs Gewächshaus, tsss, na sicher … pass du lieber auf, dass dir nicht plötzlich was mitten durch deinen formschönen Bürokasten wächst, Mr. Richards! … Und überhaupt … ich sollte doch mal mit meinem kleinen Experiment anfangen.
Die Vorstellung von einer riesigen fleischfressenden Pflanze, die nach einem entsetzt dreinblickenden Mr. Richards schnappte, hatte etwas ungemein befriedigendes …



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