Die Roland-Chroniken II: Der Diebstahl
„Halt! Wer da?“
Satibo schnaubte, als er die laute Stimme aus der Dunkelheit hörte, und begann zu tänzeln. Roland legte dem Hengst beruhigend die Hand auf den Hals. Er hatte nicht damit gerechnet, unbemerkt von Aradelsus’ Landgut weg zu kommen – sonst wäre er doch sehr enttäuscht gewesen von der Sicherheitstruppe, der er immerhin in den vergangenen drei Monaten seinen Arsch anvertraut hatte. Als ihn der Handscheinwerfer blendete, hob Roland beide Hände hoch, ohne die Zügel loszulassen, an denen er Satibo neben sich herführte.
„Ach, Beagle, du… äh, Sie sind’s“, sagte der Posten und senkte das Licht so weit, dass es Roland nicht mehr in die Augen schien. Langsam schälten sich die Umrisse zweier Rüstungsträger aus der Nacht heraus. „Was wollen Sie so spät noch hier?“ Der Sprecher stolperte noch einmal über die Höflichkeitsform. Roland erkannte die Stimme des Gefreiten Handsell. Der kannte ihn noch als Stallburschen, gab sich aber Mühe, dem neuen Pferdetrainer Respekt zu zollen.
„Was wohl?“, brummte Roland. „Was ich seit zwei Wochen fast jede Nacht mache. Trainieren. Meinen Sie, ich würde nicht auch lieber im Bett liegen? Hab schon so genug zu tun.“
Die beiden Posten glucksten ein wenig schadenfroh über Rolands mürrischen Tonfall. Sie konnten nicht wissen, dass es der Pferdetrainer selbst gewesen war, der mit kleinen Hinweisen hier und da Fürst Aradelsus zu der Entscheidung gedrängt hatte, Nachttrainings anzusetzen: Tiere, die gegen die Dunkelheit und ihre unberechenbaren Geräusche abgehärtet und nicht so schreckhaft waren, ließen sich besser verkaufen. Es gab noch genügend Planeten, wo eine Kavallerie gefragt war. Brennox 5 war selbst alles andere als hochtechnisiert – was nicht zuletzt an der altmodischen Einstellung seines Herrschers lag, dessen ganzes Leben weniger der Sorge um seine Untergebenen als der Pferdezucht gewidmet war. Zum Glück – gäbe es ein ausgefeiltes elektronisches Überwachungssystem, hätte Roland seinen Plan gleich vergessen können.
„Ja, ja, diese Nachtschichten können schon schlauchen“, sagte Handsell im Tonfall eines Mannes, der jeden außerhalb des Sicherheitsteams für ein Weichei hielt. „Wissen Sie, wann Sie zurück sein werden?“
Roland rückte den Träger seines Rucksacks zurecht. „Kommt drauf an“, sagte er.
Ein paar Tage später verabschiedete sich Roland im Hügelland oberhalb des Raumhafens Wazoo von Satibo. Der dunkelgraue Hengst knabberte zärtlich an seiner Schulter, als Roland ihm den Sattel abnahm und in die Büsche warf. „Pass auf dich auf, alter Junge“, sagte Roland, als er Satibo die Trense über die Ohren streifte. „Hast du die nette Stutenherde gestern Nachmittag gesehen? Blöde Frage.“ Roland dachte daran, wie sich Satibo unter ihm aufgeworfen hatte und auf der Stelle galoppiert war, und lächelte. „Mit dem Hengst wirst du locker fertig.“ Als sich Roland umdrehte und an den Abstieg machte, wollte ihm Satibo zunächst folgen. Doch als Roland die Arme hochriss und laut „Ab!“ rief, warf der Hengst den Kopf und trottete widerwillig davon.
Roland machte sich keine Sorgen darüber, ob sich Satibo in der Wildnis zurecht finden würde. Alle Pferde begannen ihr Leben auf den freien Grasebenen von Brennox 5, gelegentlich von Hirten überwacht, aber auf sich allein gestellt. Erst im Alter von drei Jahren ließ Aradelsus die Fohlen einfangen und zähmen – doch nicht die Wildpferde in den Bergen, die den Aufwand kaum wert waren. Die paar Jahre im Stall hatten Satibo garantiert nicht vergessen lassen, wie er draußen überleben konnte. So waren seine Chancen erheblich größer, als wenn Roland den Hengst bei Aradelsus zurück- und somit dem Metzger überlassen hätte. Im Alter von sechs Jahren endgültig ausgewachsen, hatte Satibo noch immer diesen Wirbel in der Mähne, den der Züchter als störend empfand und nicht weiter vererbt sehen wollte. „Von meinem Hof kommen nur perfekte Pferde“, pflegte Aradelsus zu tönen. Deshalb hatte er Satibo lieber töten als zu vermindertem Preis verkaufen wollen. Roland ballte die Fäuste, wenn er nur daran dachte.
Im Nachhinein dachte Roland, dass ihm die Namensähnlichkeit des Fürsten und seines ehemaligen Internats hätte zu denken geben sollen. Aber er glaubte nicht an Zeichen. Sein Job hatte ihm Spaß gemacht, bis Aradelsus unerwartet sein Talent im Umgang mit Tieren durchschaut und ihn zum Pferdetrainer befördert hatte. Seither musste Roland gezwungenermaßen täglich einige Zeit mit seinem Arbeitgeber verbringen. Adelige! Alte, verknöcherte, hochmütige Adelige! Roland hatte immer noch die kleinen, sichelförmigen Wundmale auf den Handflächen, wo er sich seine Fingernägel ins Fleisch gegraben hatte im Bemühen, sich zu beherrschen. Als Aradelsus zum ersten Mal den Vergleich von Tier-Bastarden zu den Tox gezogen hatte, die im Raumhafen arbeiteten und deren „Haltung“ er am liebsten verbieten wollte, müsste er dann nicht einen Aufstand der Händler befürchten, wusste Roland, dass seine Zeit auf diesem Planeten sich dem Ende neigte. Einen Arbeiter in der Kneipe, der die Tox beleidigte, konnte man an die Wand klatschen. Bei einem Fürsten und Herrscher über einen Planeten war das nicht ganz so einfach und benötigte Vorbereitungszeit. Jeden Tag hatte Roland dem alten Sack ins Gesicht gesehen und gedacht „Ich werde dich dort treffen, wo es richtig weh tut.“ Und das hieß in Aradelsus’ Fall: Pferde. Selbst - oder gerade - unwürdige Pferde.
Roland bahnte sich einen Weg durch das störrische Grün den Hügel hinunter und versuchte sich auszumalen, was für ein Gesicht Aradelsus gemacht hatte, als ihm klar wurde, dass sich Beagle mit einem Hengst aus dem Staub gemacht hatte. Der Fürst nahm sicher an, dass sein Pferdetrainer das Tier irgendwo verkaufen würde… Wo es vielleicht zum Decken eingesetzt wurde… Grinsend hielt Roland auf die Ausläufer von Wazoo zu.
Roland hatte schon genügend Raumhäfen gesehen um zu wissen, nach was er suchen musste. Das kleine, verwinkelte Geschäft in der Seitengasse einer Seitengasse bot alles an, was er für sein weiteres Vorgehen brauchte: Kleidung für alle Gesellschaftsschichten in erschwinglichen Preisen, Perücken, farbige Kontaktlinsen und wichtig aussehende Transportbehälter. Roland hatte von seinem letzten Job noch Geld mit auf den Planeten gebracht und das Gehalt eines Pferdetrainers war nicht schlecht gewesen. Dabei hatte ihn Aradelsus, in der Annahme, dass ein Stallbursche es nicht merken würde, noch nach unten gedrückt. Nachdem der Fürst schon beunruhigende Hellsicht in Bezug auf seine Fähigkeiten mit Tieren gezeigt hatte, hatte sich Roland entschieden, nicht durch eine Gehaltsdiskussion noch mehr von sich preis zu geben. Es war besser, wenn einem Adelige nicht zu viel Aufmerksamkeit schenkten.
Es gab Roland eine ungemeine Befriedigung, als er dem runzeligen Männchen hinter der Kasse die Münzen mit Aradelsus‘ Profil in die Hand zählte. Bargeld war in Hilfsarbeiter-Kreisen immer noch das einzig wahre – und viele Fürsten waren eitel genug, sich an dem Gedanken zu erfreuen, dass ihre Untergebenen stets kleine Abbilder von ihnen bei sich trugen. Jetzt würde Aradelsus‘ eigene Prägung Rolands Flucht ermöglichen.
Er betrachtete sich noch einmal in dem Spiegel, der hinter der Kasse hing. Die Langhaarperücke, zu einem Pferdeschwanz gebunden, ließ sein Gesicht schmaler erscheinen, die blassblauen Kontaktlinsen machten seinen Blick kühler und durchdringender. Hemd und Hose waren von feinerem Stoff, als er sonst trug, wenn auch etwas fadenscheinig. Dass der Ohrring, wie ihn viele Handwerker aus Tradition trugen, nur zum Anstecken war, fiel nicht auf. Roland verstaute seinen Rucksack in der kleinen Transportbox, die neben ihm hoverte, und verabschiedete sich von dem Ladenbesitzer. Er gab vor, den Blick nicht zu bemerken, den ihm dieser hinterherwarf.
Der Mann drehte sich um und griff nach seinem Kommunikationsgerät. Doch noch bevor er die Verbindung herstellen konnte, umschlang ihn von hinten ein Arm wie ein Schraubstock, der andere wand ihm das Gerät aus der Hand. „Na, so was“, sagte die Stimme des Fremden an seinem Ohr. „Es hat sich wohl schon rumgesprochen, dass Aradelsus ein Pferd an seinen beschränkten Tiertrainer verloren hat. Wie hoch ist denn die Belohnung?“ Der alte Mann versuchte, nach seinem Messer zu greifen. „‘Bauerntrampel‘ war die Beschreibung, wenn ich mich richtig erinnere“, fauchte er. „Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, Junge!“
Mit zwei Griffen nahm Roland die beiden versteckten Messer des Verkäufers an sich, dann ließ er den Alten los und trat einen Schritt zurück. „Ich hab kein Interesse daran, mich mit deiner Gilde anzulegen“, sagte er. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass die Unterwelt springt, wenn Aradelsus pfeift.“ Einen Moment lang sah es so aus, als wollte ihn das Männlein mit bloßen Händen angreifen, doch dann holte es tief Luft und lehnte sich an den Tresen. „Wir schieben seit Jahren eine ruhige Kugel“, begann der Mann im Plauderton. „Nicht viel zu holen auf einem Planeten, wo es nur Gras und ein paar Vulkane gibt. Aber wir hatten ein gutes Leben, Aradelsus hat sich nur um seine Pferde gekümmert und uns in Ruhe gelassen. Aber seit ein paar Tagen durchsuchen seine Leute den ganzen Raumhafen, stören die Geschäfte. Je schneller er dich hat, umso schneller können wir wieder zur Tagesordnung übergehen. Die ganze Gilde wird dich jagen. Du kannst auch gleich aufgeben.“
Roland sah den Alten ausdruckslos an und ließ lässig eine Messerklinge zwischen den Fingern wippen. Dem Mann gefror das Grinsen auf dem zerfurchten Gesicht. „Ob ihr mich tötet oder euer verrückter Fürst, ist dann auch schon egal“, sagte Roland. Der Alte zuckte unwillkürlich zurück, als ihm Roland das Kommunikationsgerät entgegen streckte. „Aber denkt mal nach: Wenn sich rumspricht, dass sich Aradelsus von einem Bauerntrampel hat austricksen lassen, wird das seinem Ansehen erheblich schaden. Und euer Einfluss wird steigen, wenn ihr euch geschickt anstellt.“
Zögernd griff der Verkäufer nach dem Kommunikator. Roland machte keine Anstalten, ihm zu folgen, als sich der Alte rückwärts zu der Tür hin tastete, auf der „Privat“ zu lesen war. Er legte die Messer auf den Tisch und lauschte auf das hastige Gemurmel, das bald darauf im Nachbarraum einsetzte. Klar war dieses Spiel gefährlich. Aber welche Möglichkeiten hatte er sonst?
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Roland hörte, wie sich die Tür wieder entriegelte. Er hatte sich auf dem Drehstuhl hinter der Kasse niedergelassen und die Beine ausgestreckt. Der Alte stolperte fast über Rolands Füße, als er in den Verkaufsraum kam, doch er lächelte, als begrüße er einen Lieblingskunden. „Wie wär’s denn mit einem passenden Namen zum neuen Outfit?“, fragte er. Roland grinste zurück. „Was hast du denn im Angebot?“
Die Menschen in den Schlangen vor dem Hangar waren erheblich leiser als sonst. Es hab kein Gedränge, jeder versuchte, Gepäck, Kinder und Tiere so nah wie möglich bei sich zu behalten. Immer wieder warfen die Wartenden nervöse Blicke auf die Sicherheitstrupps, die den Platz säumten. Es war nicht klar, wohin sie hinter ihren Rüstungsvisieren schauten.
„Randall Bratschi“, laut seiner Identifikationskarte Schreinergeselle, war fast an der Sicherheitsschleuse angelangt. Er lehnte mit ausdruckslosem Gesicht an seiner Transportbox. Die erste Hürde war bereits überstanden. In der Hafenmeisterei war niemand stutzig geworden. Dabei bezweifelte Roland, dass ihm die Unterweltgilde für den Preis, den er sich hatte leisten können, eine Lebensgeschichte dazu geliefert hatte, die auch nur der ersten Überprüfung standhalten würde. Aber trotz der offensichtlich verschärften Überwachung waren die Angestellten der Hafenmeisterei genauso gelangweilt und oberflächlich gewesen wie sonst auch. Wieder einmal bestätigte sich, wie nützlich es war, für einen Bauerntrampel gehalten zu werden: Aradelsus rechnete anscheinend nicht damit, dass sich sein ehemaliger Stallbursche aufwendig tarnte.
Nun, auch seine neuen Arbeitgeber auf der „Demeter“ würden keinen Grund haben, an seiner Person zu zweifeln: Randall würde ihnen alle anfallenden Holzreparaturen ausführen. Nicht perfekt, bei Weitem nicht. Aber das war schließlich der Grund, warum er auf Brennox 5 keine Arbeit mehr fand – es konnte ja nicht jeder zum Meister geboren sein. Wenn das Chaos keine Zicken machte, würde der Flug nicht lange dauern und das unangenehme Versteckspiel bald vorbei sein.
Hinter Rolands Rücken entstand Unruhe, ein paar Männer fluchten, ein Hund bellte. „Randall!“ Der junge Mann, der sich mit einem Seesack über der Schulter zu ihm durchdrängelte, strahlte über das ganze Gesicht. Er war fast so groß wie Roland, aber dünn, dürr fast. Immer wieder musste er sich das dunkelblonde Haar aus den Augen streichen, der Handwerkerohrring blitzte. Roland hatte ihn noch nie in seinem Leben gesehen. „Na, altes Haus?“ Der Fremde gab Roland einen freundschaftlichen Stoß an die Schulter. „Danke, dass du einen Platz für mich freigehalten hast. Du hast meine Bordkarte? Nein? Das werden wir sicher mit den netten Herren klären können.“
Das ist natürlich noch besser, dachte Roland sarkastisch. Ich hab eher damit gerechnet, dass es sich die Typen anders überlegen und mich doch verpfeifen. Er holte aus und verpasste dem Mann einen Schwinger in die Magengrube, dass sich dieser wie ein Taschenmesser einklappte. „Was fällt dir ein, Arschloch?“, sagte Roland laut. „Du hast mich doch beim Meister angeschwärzt wegen der Sitzbank. Such dir ein Schiff, das in die entgegengesetzte Galaxie fliegt, das rat ich dir!“
Die Umstehenden wichen zurück, als Roland den Blonden hochriss. „Ich bin euch nichts schuldig“, flüsterte er und drückte ihm unauffällig seine letzte Goldmünze in die Hand, bevor er ihn mit einem Fußtritt in die Richtung beförderte, aus der er gekommen war. Der Junge stolperte und wandte sich mit hochrotem Gesicht um. Er schien etwas rufen zu wollen, doch dann schaute er an Roland vorbei und schloss den Mund wieder. Der Blonde kniff die Lippen zusammen und humpelte davon.
Als sich Roland umdrehte, begegnete sein Blick dem eines Mannes im mittleren Alter in der Uniform eines privaten Sicherheitsdienstes, der in der Nähe der Schleuse stand und rauchte. Während die Gerüsteten das Interesse an der Szene schon wieder verloren hatten, musterte er Roland mit hochgezogenen Augenbrauen, dann nickte er gemessen. Roland nickte kaum merklich zurück. Er drückte seine Identifikationskarte einem leicht verblüfften Posten in die Hand. „Startet die Demeter immer noch von Dock 26?“
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