Gerüchte
Gerüchte - eine fiktive Geschichte zu der Falsch-beurteilt-Runde
Das Anwesen brodelte geradezu. Schon den ganzen Morgen sah man kleine Grüppchen, die aufgeregt miteinander tuschelten. Seit der Verwalter die Nachricht bekannt gegeben hatte, glich das sonst eher geruhsame Landgut von Irina Ravelnikov einem Bienenstock.
„Wieso kommen Sie denn ausgerechnet zu uns? Bei uns ist doch alles in Ordnung, oder?“, fragte das Küchenmädchen den Stallburschen.
Der zuckte mit den Schultern: „Ich dachte schon. Aber wieso dann diese Überprüfung?“
Das Mädchen nestelte beunruhigt an ihrer Schürze. „Ich hoffe, sie sind ganz schnell wieder weg.“ Dann kehrte sie mit einem tiefen Seufzer wieder zum schmutzigen Geschirr zurück, das sich in der Spüle stapelte. Der Stallbursche stibitzte noch schnell einen Apfel, bevor er eilig Richtung Innenhof verschwand. Beinahe wäre er über drei Soldaten gestolpert, die um die Ecke bogen.
„Pass doch auf, Bürschchen“, grollte der eine. Gereizt verpasste er dem Jungen einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. Der zuckte zusammen und setzte seinen Weg noch schneller als vorher fort, um zu den Ställen zu kommen.
„Lass ihn, war doch keine Absicht“, hielt der zweite Soldat seinem Kameraden entgegen.
„Das bringt uns wieder zum Thema“, meinte der dritte. „Welche Absichten hat dieser Besuch? Was bezwecken sie mit dieser Kontrolle? Die Chefin hat sie doch nicht selbst gerufen, oder?“
„Nein, ihrem Gesichtsausdruck nach, war sie davon genauso überrascht wie der Rest von uns. Hat zumindest ihre Zofe erzählt“, meinte der zweite.
„Soso, ihre Zofe. Hübsches Mädel, nicht wahr?“, bemerkte der erste Soldat mit einem anzüglichen Grinsen.
„Jetzt lenk nicht von Thema ab! Die Sache ist ernst genug. Es passiert nicht jeden Tag, dass die Ravelnikovs eins ihrer Sondereinsatzkommandos schicken. Das geht uns alle an.“
„Ja du hast ja recht. Oh seht mal – der Hauptmann! Mit allen Truppführern. Was die wohl gerade besprechen?“
Der Hauptmann zwirbelte seinen Schnurrbart. Er stand bereits sein ganzes Leben im Dienst der Ravelnikos und was er heute gehört hatte, behagte ihm überhaupt nicht. Seine Truppführer blickten ebenso ernst drein, wie er selbst.
„Was kommt da auf uns zu Hauptmann? Mit was müssen wir rechnen?“
„Nun“, antwortete er gedehnt. „Ich kann nur sagen, dass wir uns nichts zuschulden kommen haben lassen, soweit ich weiß. Aber wir dürfen diese Kontrolle trotzdem nicht unterschätzen. Ich habe schon einiges über dieses Team gehört …“
„Was habt ihr gehört? Was erzählt man sich darüber?“, fragte einer der Truppführer mit gerunzelter Stirn.
„Nun, eigentlich gebe ich nicht viel auf Gerüchte. Aber manchmal hat man nicht viel anderes, um eine Lage einschätzen zu können. Was feststeht ist die Tatsache, dass dem Team zwei Ravelnikovs vorstehen: die Edlen Achmed und Ali. Man sagt, dass sie früher kein besonders hohes Ansehen genossen haben. Aber dann sind sie zu einer Expedition in noch unerforschten Weltraum aufgebrochen und irgendetwas muss da passiert sein. Jedenfalls kamen sie verändert zurück. Es heißt, dass sie ein so eingespieltes Team sind, als könnten sie die Gedanken des anderen lesen. Dass man nie weiß, ob sie gerade einen Witz machen, oder es todernst meinen. Sie tauchen immer dort auf, wo ihre Fähigkeiten gebraucht werden und haben ein untrügliches Gespür für Schwierigkeiten. Doch meist halten sie sich im Hintergrund und warten ab. Aber wenn sie dann zuschlagen, wächst an dieser Stelle kein Gras mehr.“
Die Truppführer schwiegen. Erst dann traute sich einer von ihnen zu fragen: „Und wen haben sie noch dabei? Wer steht dann … im Vordergrund?“
„Ein ebenso eingespieltes Zweierteam. Juro Smith Ravelnikov und Roland Beagle Ravelnikov. Sie wurden vor einigen Jahren in das Haus aufgenommen. Über ihre Vergangenheit gibt es die wildesten Gerüchte. Dieser Juro soll ein ehemaliger Killer der Unterweltgilde sein. Er muss wohl so gut sein, dass er den Austritt aus der Gilde ohne Probleme überstanden hat. Wir wissen ja alle, dass das nicht der Normalfall ist. Roland wurde von Brahim großgezogen, nachdem sie seine Eltern umgebracht hatten. Er hat es irgendwie geschafft, sich dort durchzusetzen. Wer sich mit ihm anlegt, muss damit rechnen, den eigenen Planeten an die Brahim zu verlieren. Ich weiß nicht, wie Achmed und Ali sie überreden konnten, ihrem Haus beizutreten, aber seitdem sind sie der Kern ihres Sondereinsatzkommandos, das immer dann auftaucht, wenn etwas auf einem Planeten der Ravelnikovs im Argen liegt.“
Die Truppführer wagten es kaum, Blicke zu wechseln. Um einiges bleicher warteten sie schweigend auf weitere Anweisungen. Der Hauptmann seufzte leicht. „Ich erwarte von euch, dass ihr euch vorbildlich verhaltet und kooperativ seid. Wir wollen einen guten Eindruck hinterlassen! Verstanden? Und jetzt macht eure Leute präsentabel.“
Alle Truppführer nickten mehrmals bekräftigend. Dann drehten sie sich wie ein Mann um, und verschwanden in Richtung Exerzierplatz. Der Hauptmann sah ihnen mit bewölktem Blick hinterher und ließ ihn dann über das Anwesen streifen. Auf dem Schweberlandeplatz flog gerade einer der Lastschweber ein.
„Drei, zwei, eins, aus. Das wärs“, meldete der Pilot des Schwebers. Sein Copilot sah ihn von der Seite an.
„Du hast schon von den Typen gehört, oder?“
„Ja hab ich. Wir sollten echt aufpassen, dass unser Bereich in bester Ordnung ist, bevor sie eintreffen. Mit Leuten, die ihnen in die Quere kommen oder die sich irgendwie verdächtig machen, gehen sie wohl nicht zimperlich um. Mir hat mal jemand erzählt, dass sie einen Haufen menschenfressender Riesenratten dabei haben, an den sie solche Leute verfüttern. Wenn die nicht vorher der Greif erwischt, den sie denen hinterherschicken, die glauben, Flucht wäre eine Option. Der eine, Roland, kann anscheinend mit allem reden: Tieren, Aliens, Monster … und sie hören auf ihn. Beide haben unglaubliche körperliche Kräfte, Roland ist stark wie ein Brahim und Juro schnell wie das Licht. Ist ne heftige Kombination.“
Der Copilot schluckte. „Das klingt ja wirklich übel. Scheiße, was glauben die nur, hier zu finden?“
„Keine Ahnung. Aber egal was es ist, sie werden es finden. Lass uns lieber gleich die Waren abladen, damit alles geregelt ist, wenn sie eintreffen. Oh sieh mal, die Chefin!“
Die Edle Irina Ravelnikov stand auf ihrem Balkon und sah ihr Gegenüber scharf an. „Bruder David, seid ihr sicher, dass das nicht etwas übertrieben ist? Dieser Roland soll nur durch seine Anwesenheit ein feindliches Computernetz komplett lahmgelegt haben? Aber er ist kein Elektrokinet? Wie soll das denn funktionieren?“
Der Geistliche neigte den Kopf. „Die Wege des Einen sind unergründlich. Vielleicht hat es mit der Philosophie zu tun, die er verfolgt. Sie drückt sich anscheinend nach außen nur darin aus, dass er es meist ablehnt, seine Füße mit Schuhen zu bedecken, um nicht von den Schöpfungen des Einen abgeschnitten zu sein. Bei dem anderen, Juro, ist zumindest nachgewiesen, dass er psionisch aktiv ist. Allerdings ist nicht klar, welche Begabungen er genau besitzt. Man munkelt, er könne beliebige Fähigkeiten entwickeln, wenn es die Situation erfordert.“
Irina lachte unsicher auf. „So etwas habe ich noch nie gehört. Wobei ich zugeben muss, dass selbst wenn nur ein Drittel der ganzen Gerüchte wahr sind, es mich trotzdem nachdenklich macht. Mir wurde nicht gesagt, was sie hier genau untersuchen wollen. Nur dass ich sie beherbergen soll, bis die Sache abgeschlossen ist und ihnen Zugang zu allen Unterlagen gewähren.“
Pater David ließ seinen Rosenkranz durch die Finger gleiten. „Ich würde euch raten, absolut offen zu sein. Es wird nur unangenehm, sollten sie den Eindruck haben, dass ihr etwas verbergt. Ihr Verhörspezialist, dieser Juro, hat seine eigenen Methoden, Informationen aus jemandem herauszuholen. Ein Schmerzverstärker soll eine große Rolle dabei spielen. Irgendwann hat wohl einmal jemand versucht, ihn damit zu brechen, aber er fing an zu lachen, kaum dass das Gerät abgeschaltet war. Seitdem hält er es für eine „humane“ Art der Folter, die er ohne Bedenken einsetzt.“
Irina nickte nur und entschuldigte sich: „Ich werde mich mit meinem Verwalter besprechen und alles vorbereiten. Wir sehen uns später.“
Am frühen Abend landete das fremde Schiff am Anlegeplatz. Irina stand persönlich bereit, um die Besucher zu empfangen. Als sich die Schleuse öffnete, musste sie tief durchatmen, um nicht unwillkürlich einen Schritt zurückzuweichen. Doch dann riss sie sich zusammen und schritt den beiden gerüsteten Gestalten, die gerade das Schiff verließen, würdevoll entgegen.
„Willkommen auf meinem Landgut! Ich freue mich, ehrenwerte Mitglieder meines Hauses empfangen zu dürfen.“ Nur ein kurzes Stocken verriet ihre Nervosität. Die beiden sahen sie ausdruckslos an, bevor einer der beiden, in eine nachtschwarze Rüstung gekleidet, einen Schritt vortrat und ihr antwortete: „Habt Dank. Ich bin Juro Smith Ravelnikov und das“, er wand sich zu seinem Begleiter um, „ist Roland Beagle Ravelnikov. Die beide Edlen Achmed und Ali Ravelnikov werden das Schiff verlassen, sobald wir die Situation geprüft haben. Das versteht ihr doch, oder?“ Dunkle Augen sahen Irina unter einer hochgezogenen Augenbraue an.
„Sicher, sicher. Wenn ihr mir dann folgen wollt?“ Einladend streckte sie den Arm aus. Das Visier ihres Gastes schnappte kurz hoch, senkte sich aber nach wenigen Sekunden wieder. Aus dem Rumpf des Schiffes rückten Gerüstete aus und formierten sich. Unter ihren wachsamen Blicken zog die Prozession zum Haus. Dort schwärmten sie aus und sicherten die Lage. Irina stand etwas hilflos daneben. Es behagte ihr gar nicht, die Kontrolle über ihr Heim zu verlieren. Aber was sollte sie machen? Roland hatte bis jetzt noch keinen Ton von sich gegeben. Er stand nur schweigend neben seinem Kollegen und schien auf etwas zu lauschen. Erst jetzt kam sie auf die Idee, den Blick etwas zu senken. Er hatte tatsächlich keine Schuhe an! Er trug eine Rüstung ohne Fußbekleidung. Eigentlich hätte es lächerlich aussehen müssen, aber aus irgendeinem Grund schüttelte es Irina leicht. Auch Juros Gesicht hatte einen konzentrierten Ausdruck angenommen, als er seinen Blick über die Gebäude schweifen ließ. Irina wagte nicht, sie zu stören. Nach einer Viertelstunde war der Spuk erst einmal vorbei, die Gerüsteten sammelten sich und hinter verschlossenen Visieren wurde Rapport erstattet. So sah es zumindest aus. Juro sah Irina wieder an. „Wir nehmen Eure Gastfreundschaft gerne an. Bitte versammelt Eure wichtigsten Leute, damit wir sie in Augenschein nehmen können.“
„Das ist bereits geschehen. Sie warten in der großen Halle auf uns.“
„Gut.“
Kein Wort zu viel, dachte Irina, als sie die Tür öffnete und ihre Gäste herein bat. Ein Blick auf ihren Verwalter und ihre versammelten Leute verriet ihr, dass sich die Gerüchte bereits über das ganze Landgut ausgebreitet hatten. Furcht lag in der Luft. Juro und Roland traten ein, gefolgt von vier der Gerüsteten. Schweigend blickten sie jeden einzelnen im Raum an. Es herrschte Stille. Sie dauerte an. Als die beiden die Musterung der Leute beendet hatten, fingen sie von neuem an, einzelne Personen genauer anzusehen. Der ein oder andere fing an zu zittern. Irina klopfte das Herz bis zum Halse. Sie hatte doch gar nichts verbrochen. Oder? War sie versehentlich jemandem auf die Füße getreten? Gab es ein Missverständnis? Hektisch ging sie die Ereignisse der letzten Monate durch. Die Stille dehnte sich aus. Doch da wurde sie jäh unterbrochen. Die Eingangstüren flogen fast aus den Angeln, als zwei weitere Gerüstete den Raum betraten. Blankgeputzer Stahl schimmerte im Lampenlicht, Waffen blitzten auf, schwere Schritte erschütterten den Boden.
„Die Edlen Achmed und Ali“, flüsterte Irina nur, doch es klang in ihren Ohren wie ein Donnerschlag. In diesem Moment hallte ein Schrei durch die Halle.
„Ja ich wars, ich gebe es ja zu, nur bitte bitte steckt mich nicht in den Schmerzverstärker! Bitte verfüttert mich nicht an die Ratten! Ich sage alles, alles was ich weiß! Ich kann nützlich sein, wirklich nützlich! Bitte, oh bitte …“
Irina dreht sich entsetzt um und blickte verständnislos auf ihren Verwalter. Der kniete zu Tode erschrocken am Boden und rang die Hände. Juro machte nur eine kurze Geste und schon wurde er von behandschuhten Händen empor gerissen und aus der Tür Richtung Schiff gezerrt. Die beiden Neuankömmlinge folgten ihm auf dem Fuß.
„Was … was ist da gerade passiert?“, fragte Irina schwach. Erst dann fiel ihr auf, dass Roland sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Jetzt warf ihm Juro einen kurzen Blick zu und schien sich erst zu entspannen, als Roland kurz den Kopf schüttelte.
„Euer Verwalter scheint euch hintergangen zu haben. Er arbeitet schon seit einiger Zeit für die Fjellstroem. Ich fürchte, ihr müsst euch einen neuen suchen.“ Juro sah sie mit einem leichten Lächeln an. Irina nickte wie im Traum und versuchte immer noch zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Nach einer Weile richtete sie sich auf und fragte mit zitternder Stimme: „Das Essen ist serviert. Ich hoffe doch, ihr habt Hunger?“
Juro klopfte Roland auf die Schulter. Das Schiff hob sich gerade wieder dem Himmel entgegen und sie saßen in bequemen Overalls in ihren Sitzen.
„Das lief ja wie am Schnürchen! Ich hab schon gedacht, die machen sich vor lauter Angst in die Hose“, kicherte Juro. Roland warf ihm erst einen missbilligenden Blick zu, verzog dann aber auch den Mund zu einem Grinsen.
„Ich hab mir eher Sorgen gemacht, dass Achmed und Ali ihren Auftritt verpassen“, grummelte er. „Bei denen weiß man nie, wann sie nüchtern genug sind, um sich an die Abmachungen zu erinnern.“
„Was denn, das haben sie mal wieder perfekt hingekriegt. Beeindruckendes Auftreten liegt ihnen einfach. Und dank unserem beredsamen Jack haben alle Gerüchte ihr vorgesehenes Ohr erreicht. Gib diesem Kerl eine Woche in einer Kneipe und der ganze Planet kennt Juro und Roland!“
„Ich wünschte nur, er würde nicht dauernd erzählen, dass Aoraki Leute frisst. Das tun Hütegreifen nun mal nicht“, kritisierte Roland.
„Ach glaubst du ich finde die Geschichte mit dem Schmerzverstärker toll? Du weißt, wie ich die Dinger hasse … Aber es ist effektiv. Genau die richtige Mischung aus Fakten und Fiktion. Immerhin hilft es uns dabei, weniger Leuten weh tun zu müssen, oder etwa nicht? Der Kerl hat ganz von allein gestanden.“ Wieder brach Juro in Gelächter aus.
Roland seufzte. Sein Freund hatte ja recht. Sie hatten sich gerade den richtigen Ruf aufgebaut, der ihren Ermittlungen nützlich war. Was machte es schon, wenn er sich darin kaum wieder erkannte. Es waren nur Geschichten.
Zufrieden blickte Juro aus dem Fenster. Wieder ein Auftrag abgeschlossen. Da steckte einiges an Belohnung drin. Mit einem wohligen Lächeln schloss er die Augen und lehnte sich zurück. Roland sah weiter aus dem Fenster. Ich hoffe nur, das gibt nicht irgendwann Schwierigkeiten, dachte er, bevor er sich die Kopfhörer aufsetzte, um seine Lieblingsmusik zu genießen.
„Richtig harte Kerle? Soso. Das könnte dem Fürsten gefallen! Die letzten Spiele haben ihm gar nicht zugesagt. Alles viel zu weich, keine Kämpfer mit Durchhaltevermögen. Die meisten knicken schnell ein, nachdem sie ihre großen Sprüche abgelassen haben. Und mit den Ravelnikovs hat er sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen. Klingt fast schon perfekt. Gut, dann mach dir mal Gedanken, wie du diese beiden in die Finger kriegst. Aber sei vorsichtig, klar? Setz deinen Grips ein, um die Falle zuschnappen zu lassen. Mit Speck fängt man Mäuse. Viel Erfolg!“ Der Mann verbeugte sich kurz und ließ ihn dann allein. Er verschränkte die Finger und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Das versprach eine ganz neue Herausforderung zu werden. Er freute sich schon darauf.