Der Tourist
23.08.2114
Andrea:
Liebes Tagebuch,
Nach meinem ersten Einsatz in Norinas Eiswagen, war ich am nächsten Tag noch ganz geblendet von all den Eindrücken. Vor allem die selbsterschaffene Architkekturkunst aus leckerem Milcheis ließ mich so schnell nicht wieder los.
Wer hätte gedacht, dass heute aber noch etwas viel Aufregenderes passieren würde?
Eigentlich begann der Vormittag ganz normal. In Meister Rafaels Luftbändigerkurs sind wir mal wieder die Pyramide hochgeflogen. Habe ich davon schon mal erzählt?
Der Stützpunkt der italienischen Hexenmeister befindet sich auf dem nicht-katholischen Friedhof Roms. Wir haben uns dort in den unterirdischen Tunneln breit gemacht. Dort kommt man nur durch eine Portalbarriere rein. Hat man die aber erst einmal durchquert, kann man sogar oberhalb auf dem Friedhof einiges mehr sehen, z.B. trainierende Hexenmeister.
Oben gibt es pompöse Bauwerke. Unter anderem eine riesige Steinpyramide, die so steil ist, dass kein normaler Mensch, der noch bei Verstand ist, auf die Idee kommen würde, sie zu erklimmen. Zum Glück sind Hexenmeister alles andere als normal. Und für uns Luftbändiger ist es eine der leichtesten Übungen, auf die Spitze der Pyramide zu gelangen.
Darum gebe ich ja zu, dass ich mich auch ein wenig schäme. Ich stand nämlich gedankenverloren da oben, als mich Meister Rafaels Ruf von unten zurück in die Realität riss.
Bei dem Schrei erschreckte ich mich so sehr, dass ich die Kontrolle verlor. Die Kontrolle über meine Luftmagie.
Sofort geriet ich aus dem Gleichgewicht. Die Schwerkraft packte nach mir. Und ich fiel.
Ich konnte keinen Halt finden, rutschte immer weiter hinab. So schnell, dass es mir die Luft aus der Lunge drückte.
Erst kurz vor dem endgültigen Absturz, griff Meister Rafael ein.
Er half mir, beim Aufprall nicht zu sterben. Sanft landete ich deswegen aber noch lange nicht. Und seine Geschimpfe über meine Unachtsamkeit klingelt mir noch jetzt in den Ohren.
Rafael musste mich natürlich gleich bei meinem Bruder Vincenzo verpfeifen. Wir treffen ihn immer beim Mittagsessen in der Speisekammer. (Das nennt sich wirklich so, obwohl es nur eine Kantine ist.)
Weil mein Bruder als Lehrmeister mittags meistens auch etwas neue Kraft tanken muss, fehlt ihm die Energie, sich mit mir oder Rafael zu streiten. Der Unterricht schlaucht ihn, auch wenn sich das nie eingesteht.
Mein Meister hat sich jedenfalls nicht um meine aufgeschürften Hände gekümmert, sondern lieber sein Wissen über die Farbe von Damenunterwäsche geteilt. (Was auch nicht schlecht ist.) Darüber haben sich Vincenzo und er dann irgendwie in die Wolle bekommen.
Ich habe dann erst einmal die Heilerin aufgesucht, um meine Hände behandeln zu lassen. Bei ihrer Auseinandersetzung wollten mich Vincenzo und Rafael nicht dabei haben. Und das obwohl ich solche Streitereien gewohnt bin. Na ja, es wurde wohl zu intim, denn es ging um die Exfreundin meines Bruders …
Intim wollte die Krankenschwester mit mir zumindest nicht werden. Nachdem ich sie nach der Farbe ihrer Unterwäsche gefragt hatte, hat sie mich rausgeworfen und die Heilsalbe gleich hinterher. Ich weiß auch nicht … Bei Rafael sieht das immer so einfach aus.
Während ich durch die abgelegenen Gänge wandelte, hörte ich schon wieder ein Geräusch.
Dieses Mal war es aber kein erschreckend lauter Schrei, sondern mehr ein beklemmendes Gemurmel, einem tiefen Brummen gleich.
Je näher ich mutterseelenallein und ohne jegliche Verstärkung auf die Geräusche zukam, desto bekannter schienen sie mir.
Und dann sah ich ihn: Diesen schrecklichen Amerikaner von gestern. Hier. Bei den Hexenmeistern. Mitten im Geheimversteck.
Ich bekam Panik, bewahrte aber logischer Weise einen kühlen Kopf.
Leise schwebte ich seitlich an der Wand entlang, solange der alte Sack nicht hinsah. An der Decke angekommen verbarg ich mich in der Finsternis. Die Fackeln direkt unter mir pustete ich vorsichtshalber aus, um mich noch weiter in Dunkelheit hüllen zu können.
Der Amerikaner tat genau das, was ich erwartete: Er lief unter mir hindurch, ohne mich zu bemerken.
Ich hielt die Luft an. Was tat er hier? Er hatte auf dem Stützpunkt nichts verloren und deswegen folgte ich ihm, indem ich an der Decke entlangflog.
Sonderlich spannend war das aber nach fünf Minuten auch nicht mehr. Im Moment waren die Gänge menschenleer. Der Amerikaner grummelte vor sich hin. Es war an der Zeit, ihm ein wenig Angst einzujagen.
Meine Geisterimitation brachte schon einiges. Der Alte schaudere und ich wette, er bekam eine Gänsehaut.
Dummerweise ging er einfach weiter, um sich dann urplötzlich umzudrehen, als ich schon gar nicht mehr damit gerechnet habe.
Er sah mich. Und ich schwebte an der Decke.
Weil ich sowieso enttarnt war, glitt ich zum Boden hinab. Filmreif und wie eine Elfe, setzte ich meinen Fuß auf die Erde. Doch ich glaube, er hatte den Ernst der Lage nicht begriffen.
„Herzlich Willkommen“, sagte ich würdevoll, obwohl er als Tourist alles andere als Willkommen war und ich ihn dringend loswerden musste.
Auch wenn ich mich ein wenig vor ihm fürchtete, fühlte ich mich überlegen. Immerhin bin ich ein Hexenmeister und er nicht.
Zwar versuchte ich ihn, zum Verschwinden zu bewegen und ihm Angst einzujagen, aber er ließ sich kaum beeindrucken. Selbst als ich auf die großen Gefahren hinwies, die hier unten lauerten und zur Demonstration alle Fackeln ausgehen ließ, erklärte er es sich mit einem Stromausfall.
Das Ganze wurde noch absurder. Im Dunkeln verletzte er sich den Knöchel und ich stand ihm mit meiner Heilsalbe und meiner Handytaschenlampe zur Seite. Irgendwie wurde der Amerikaner jetzt ein wenig freundlicher.
Ich versprach ihm, dass wir gemeinsam nach dem Groundkeeper (was auch immer) suchen würden. Und eigentlich hoffte ich inständig, ihn endlich durch das Portal zurück in seine normale Welt befördern zu können.
Also wählte ich ein paar weitere abgelegene Gänge und trat mit dem Tourist durch den Ausgang. Jedenfalls dachte ich, es sei der Ausgang.
In Wirklichkeit landeten wir in der Bibliothek der Hexenmeister. Und das ist einer der schlimmsten Orte, die man sich vorstellen kann. Zumindest für einen Fremden.
Dazu muss man wissen, dass sich die Bibliothek im prächtigsten und höchsten Gewölbe unter der Erde befindet. Die Jahrtausende alten Schätze in Form von Büchern und Regalen wurden bei der Übersiedlung hierher transportiert. Erst seit 20 Jahren wagen die italienischen Hexenmeister, dem Vatikan zu strotzen und haben sich direkt vor deren Nasen platziert. Vorher haben wir Magier uns lange im Verstecken geübt. Darum ist es umso verwunderlicher, dass der Amerikaner überhaupt auf den Stützpunkt kommen konnte.
In der Bibliothek arbeiten viele Luftbändiger. Sie fliegen hoch zu den Regalen und gelangen an die Bücher, die für Magier anderer Elemente unerreichbar bleiben. (Auf die hohen Holzleitern, die es gibt, steigt keiner freiwillig.)
Sobald wir den Lesesaal betraten, wurden wir auch schon vom Bibliotheksmeister Malcom Snyder empfangen.
Jener machte gleich einen guten Eindruck, weil er ebenfalls aus Amerika kommt. (Aus Kansas, um genau zu sein. Ein Wirbelsturm hat ihn hergebracht, das Übliche also.)
Mr. Snyder wollte die Daten des Tourists erfassen, damit er ihn gleich in der Bibliothek anmelden konnte. Endlich hörte ich mal seinen Namen, verstand aber, weil er von Natur aus nuschelte, nur so etwas wie Stanrick.
Natürlich merkte Mr. Snyder schon bald, dass etwas mit seinem potentiellen Bibliothekskunden nicht stimmte. Als er Stanrick nämlich nach dessen Element fragte, wollte jener wissen, mit was für einer Technik diese fliegenden Schuhe funktionieren, die alle tragen würden.
Der Bibliothekar reagierte augenblicklich. Keine zehn Minuten später stand unsere Hausmeisterin Jolina höchstpersönlich vor uns. Auch mein Bruder und Meister Rafael waren dabei. Sie gingen wohl davon aus, ich hätte wieder einmal Ärger gemacht, denn sie straften mich mit tadelnden Blicken.
Nicht einmal der süße Tierbegleiter unserer Hausmeisterin schenkte mir Beachtung. Sonst kuschelt er immer mit mir. Der Tierbegleiter ist ein weicher Waschbär mit dem Namen Phillippo. Aber er hat nicht einmal Radau gemacht, als er Stanrick gesehen hat. Er war zu allen lieb, nur zu mir nicht.
Jolina schaffte es mit einer paar Notlügen, Stanrick aus der Bibliothek zu locken. Wir machten uns alle auf den Weg in ihr Hausmeisterbüro.
Vincenzo und Rafael quetschten alle möglichen Infos über den Alten aus mir heraus. Aus irgendeinem Grund riefen sie dann auch noch nach Paola, der Lehrmeisterin für den Anfängerfeuerkurs.
Mir wurde erst klar warum, als Stanrick sich im Büro total in Rage redete. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, da ich bei solch einem Herumgeschrei automatisch auf Durchzug schalte. Aber dann geschah etwas Unfassbares: Der Tourist rief auf einmal kreisend Feuerbälle hervor.
Und gleich nach diesem Spektakel verlor er das Bewusstsein. Stanrick ist ein Hexenmeister!