Mamas Spezialsoße
Norina:
Hach, ich hab schon ganz vergessen, wie das ist: Das ganze Haus platzt aus den Nähten, ein Geschrei, das man meint, die Menschen müssten sich jeden Moment gegenseitig an die Kehle gehen - aber gleichzeitig sind alle so liebevoll zueinander. Ich habe direkt Heimweh bekommen. Nur: Selbst wenn ich zurück in die Toskana ginge, ich könnte das nie wieder haben. Meine Familie hat die Tür für immer zugeschlagen an dem Tag, an dem ich nach Rom aufbrach. Dass ich mit meiner zweiten Familie ebenfalls gebrochen habe, kann das trotzdem nicht wieder gut machen.
Vielleicht hab ich deshalb den Loredans diesen wahnsinnigen Rabatt gegeben. Jetzt deckt die Bezahlung gerade mal die Ausgaben, die ich für die Eisherstellung aufwenden muss. Von den nächtlichen Stunden an der Maschine und den ganzen Nachmittag, an dem mir der Verkauf entgeht, ganz zu schweigen. Aber was soll's? Das Geschäft läuft in diesem heißen Sommer besser denn je. Und Andrea, der kleine Aufschneider, ist einfach zu niedlich mit seinem: "16 ist der wichtigste Geburtstag im Leben eines Mannes". Er ist ein guter Kunde - und ich freue mich schon richtig darauf, einen ganzen Nachmittag Teil seiner Geburtstagsparty zu sein, mittendrin in diesem Gewimmel aus Geschwistern, Cousins und was weiß ich noch für Menschen. Donna Loredan ist eine so temperamentvolle Frau! Wie sie in der Küche stand, den Kochlöffel wie ein Zepter schwang und Anweisungen durch das ganze Haus brüllte! Das Idealbild einer italienischen Mama, einfach wunderbar! Natürlich wusste sie nichts von der Eis-Großbestellung, die ihr jüngster Sohn - angeblich "nur für dich, Mama!" - für seine Party bei mir getätigt hatte. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir Andrea nichts von dem Rabatt sagen, damit sie ihn in den kommenden Jahren noch damit aufziehen kann, wie sein ausgefallener Geschmack, ausgerechnet die beste Eismacherin der Stadt für einen ganzen Nachmittag exklusiv zu mieten, die Familie in Schulden gestürzt hat.
Ich hab's also absolut nicht bedauert, dass ich heute diesen kleinen Abstecher ins Hause Loredan gemacht hab. Obwohl ich mich dabei fast verraten hätte! Schuld war natürlich Andrea. Der musste mitten im Küchenchaos auf die Leiter steigen und anfangen, die Soßenspritzer an der Decke zu übermalen - die nur deshalb dort gelandet waren, weil seine Mama sich so über ihn aufgeregt hat. Obwohl da schon einige Stellen nachträglich gestrichen aussahen, also war es wohl nicht das erste Mal. Jedenfalls stieß Donna Loredan, die hinten natürlich keine Augen hat, gegen die Leiter und kippte den Topf mit dem kochenden Spaghetti-Wasser in ihre Richtung. Unwillkürlich habe ich das gemacht, was ich jeden Tag tue: Die Hand ausgetreckt und das Wasser abgekühlt, bevor sich die arme Frau böse verbrühen konnte. Klar hätte es unauffälligere Lösungen des Problems gegeben - das Wasser wieder zurückschwappen lassen oder so -, aber ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Zum Glück ist die Fähigkeit der Menschen, alles zu ignorieren oder umzuinterpretieren, was nicht in ihr Weltbild passt, nahezu grenzenlos. Donna Loredan war ganz verwirrt - schließlich muss sie als Köchin genau gemerkt haben, dass das Wasser bereits am Kochen war. Aber sie hat sich sofort selbst die Erklärung geliefert, dass sie sich wohl geirrt haben muss, als sie plötzlich pitschnass, aber komplett unverbrüht am Herd stand. Und Andrea war zum Glück zu sehr damit beschäftigt, nicht von der Leiter zu fallen, um was zu bemerken. Puh, ein Glück! Ich hab ja keine Ahnung, wie diese liebe Familie zum Thema Hexenmeister steht... Aber dieses Soßenrezept sollte Donna Loredan lieber in den Müll werfen, das hatte einfach einen seltsamen Nachgeschmack.
zurück zu Antiphase - Hexenmeister in Italien