Die Roland-Chroniken VII: Vater und Tochter
„Roland, hast du meine Mutter eigentlich gut gekannt?“
Roland rutschte die Feile weg. Sie streifte Aorakis Tatze und bohrte sich in seinen Oberschenkel. Der Hütegreif kreischte auf und hackte nach ihm. „Au, verdammt...“ Roland streckte die Hand aus, um Aorakis Hals zu tätscheln. „Glaub mir, das hat mir mehr weh getan als dir“, murmelte er und wühlte mit der anderen Hand in seiner Ersten-Hilfe-Box.
„Oh, was machst du denn?“, sagte Anouk mit einem mütterlichen Tonfall, wie ihn nur Zwölfjährige entwickeln können. „Warte, ich helfe dir.“
„Nein, ich hab’s gleich, warte, er ist gerade ziemlich aufgeregt...“
„Blödsinn.“ Das Mädchen trat auf Aoraki zu, packte seinen Schnabel und zwang seinen Kopf nach unten. „Stell dich nicht so an, du Riesenhühnchen“, sagte sie. „Das ist nicht mal ein Kratzer.“
Roland ließ sich Zeit damit, das Sprühpflater zu finden und durch das Loch in seiner Hose auf die kleine Wunde zu sprühen. Er hantierte mit gesenktem Blick. Aus den Augenwinkeln hätte es Ramona sein können, die da neben ihm stand: Schlank, weiße Haare, eine natürliche Grazie, die viele Mädchen ihr Leben lang zu erreichen versuchen...Roland schluckte.
„Ok, lassen wir das für heute. Wir sind eh bald zu Hause, dann kann er sich seine Krallen bei der Arbeit selbst abschleifen.“ Roland bückte sich, um den Putzkasten zusammenzupacken. „Aoraki ist immer etwas schlecht gelaunt, wenn er auf einem Raumschiff eingesperrt ist.“
Anouk griff in die Kühlbox und warf dem Hütegreif eine Handvoll gefrorener Küken zu. „Nicht mehr lange, Großer“, sagte sie.
Das Lächeln. Das schmale Kinn. Sie hat fast alles von ihr. Roland wandte sich ab. Nur die grünstichigen Augen nicht. Und ihre Hautfarbe ist etwas gesünder.
Anouk griff nach einer Mistgabel. „Also, meine Mutter?“
Verdammt. Sie ließ sich nicht mehr so leicht ablenken wie noch vor einem Jahr. „Wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?“ Roland gelang es, einen beiläufigen Ton anzuschlagen. Er griff nach einer Schaufel.
Das Mädchen zerforkte einen getrockneten Hütegreif-Haufen und schwieg. „Ich habe Träume“, sagte sie schließlich.
„Oh, Anouk, du weißt doch, im Chaos...“
„Ja, ja, ich mach ja die Übungen, die ihr mir beigebracht habt. Es ist ja auch nicht so, dass ich irgendwelche Stimmen höre oder mir irgendwelche gehörnten Gestalten Versprechungen machen oder so.“ Der Fladen war so zerkrümelt, dass er sich mit der Gabel nicht mehr aufnehmen ließ. Aoraki stupste sie auffordernd an. Sie griff zur Kühlbox, ohne wirklich hinzusehen. „Ich sehe... Bilder, Bruchstücke, ein Lied, ein Lächeln, wie Erinnerungen... Ja, ich weiß“, unterbrach sie, noch bevor Roland Luft holen konnte. „Ich war zu jung, als sie gestorben ist. Trotzdem, ich kann nicht aufhören, an sie zu denken.“
„Warum fragst du nicht Juro?“, sagte Roland und schämte sich im gleichen Moment für seine Feigheit. Wie immer.
„Och, du weißt doch selbst, Dad hat so viel zu tun. Die Verhandlungen mit den Chang und der Kontaktversuch mit den Derishia...“
Eigentlich sollte es nicht mehr schmerzen. Mit acht Jahren hatte sich Anouk angewöhnt, Juro gelegentlich „Dad“ zu nennen. „Andere Adoptivkinder dürfen auch Papa sagen“, hatte sie geschrien, als er protestierte. „Wenn er weggegangen ist und mich alleine gelassen hat, ist das sein Pech.“ Roland lächelte fast bei der Erinnerung. Sie ist eine sehr stolze junge Dame. Und dickköpfig. Juro war schier verzweifelt, aber Roland hatte ihm versichert, dass es ihn nicht störte, im Gegenteil. Was natürlich gelogen war.
„Ich weiß, dass er nicht gern über sie redet. Und ich will ihn jetzt nicht stören damit, wenn die Mission so wichtig ist.“ Anouk scharrte mit dem nackten Fuß im Stroh. „Wenn ich schon ein Unfall war, muss ich ihn nicht ständig nerven“, murmelte sie so leise, dass es Roland fast nicht hören konnte.
Eine Welle des Schmerzes überflutete ihn. Er ließ die Schaufel fallen, packte das Mädchen an den Schultern und drehte es zu sich herum. „Red keinen Unsinn. Juro liebt dich, das weißt du.“
„Ja, aber er und Ma...“
„... haben nur eine Nacht miteinander verbracht und die Beziehung sofort wieder beendet. Was solls?“ Sie schniefte. Oh, verdammter, verdammter Feigling! „Was meinst du, warum er dich dabei haben will, während Jura und die Kids auf Nova Arctica bleiben? Du bist uns eine große Hilfe. Du bist das Beste, was sie uns hinterlassen hat.“
Als Anouk aufblickte, waren ihre Augen trocken. „Also mochtest du sie auch nicht?“
Roland wich zurück und bückte sich nach der Schaufel. „Wie kommst du darauf? Wir hatten einfach keine gemeinsamen Themen. Landwirtschaft war nicht so ihr Ding.“
Die blauen Augen musterten ihn, als versuchten sie, durch seine Schädeldecke zu dringen und zu lesen, was dahinter verborgen lag. „Bill mochte sie nicht, das merke ich daran, wie er das Gesicht verzieht, wenn ich nach ihr frage. Ramona Fjellström.“ Anouk ließ den Namen auf ihrer Zunge zergehen. „Eine in Ungnade gefallene Adelige.“
„Hast du wieder das System gehäckt?“ Rolands Mundwinkel zuckten. „Bill wird sich bei Juro beschweren, das weißt du.“
„Ach, Quatsch, er vergöttert mich geradezu.“ Sie lächelte. „Er mag es, wenn ich seine Fallen knacke.“
Sie beendeten die Arbeit schweigend. Kaum hatte sich Anouk unter die Dusche verabschiedet, rief Roland seinen Freund an. „Ich glaube, bald müssen wir ihr die Wahrheit sagen.“
Am Abend fand Anouk auf ihrem Bett eine Decke, auf die ein großes Templer-Emblem gestickt war. Darauf lag ein Zettel. Ein Zettel – das war mehr Rolands Stil, aber sie erkannte die ungeübte, krakelige Handschrift ihres Vaters. „Die Decke gehörte deiner Mutter“, stand da. „Sie soll dich vor bösen Träumen schützen.“
*
Am Anfang hatte sich Roland noch einreden können, dass es Einbildung war. Einbildung oder ein natürlichen Phänomen. Trockene Luft, der Bodenbelag, der Stoff des neuen Hemdes. Was auch immer für diese kleinen elektrischen Entladungen sorgt, wenn sich zwei Menschen berühren. Das Baby heulte vor Hunger, er war nicht schnell genug mit der Flasche, griff nach dem kleinen Bündel und pitsch! Nichts Besonderes.
Und doch, und doch... Nie hatte Roland so inbrünstig gebetet wie auf dieser ersten Chaosreise nach Eröffnung des Raumhafens. Sie waren mit Achmed und Ali zu dem Schluss gekommen, dass es der Ordnung wenig nutzte, wenn der Paladin Ewigkeiten auf Nova Arctica festsaß und darauf wartete, irgendwann einmal stark genug zu sein, um den ganzen Asteroiden zu teleportieren. Falls das überhaupt passierte. Vielleicht musste Juro seine Mission vorantreiben, seine Suche fortsetzen, um die Fähigkeit weiterzuentwickeln. Wie auch immer die Mission aussah. Uriel war und blieb in diesem Punkt nervtötend vage.
Außerdem musste Roland weg von Nova Arctica. Er konnte es nicht länger ertragen, die mitleidigen Blicke von denen, die eingeweiht waren, die wilden Spekulationen von denen, die keine Ahnung hatten. Und das Wissen, dass sie da war... Vielleicht war es ein Fehler, Anouk mit auf eine Chaosreise zu nehmen. Doch der Gedanke, das Baby zurück zu lassen, war Roland unerträglich gewesen. Und so wickelte er die Kleine in seine Schutzzeichendecke und betete. Am liebsten hätte er die Wiege in der Kapelle aufgestellt. Zaishen versuchte ihn zu beruhigen. Immerhin waren sie im Auftrag des Herrn unterwegs. Doch auch wenn Roland in seiner Überzeugung, gegen das Chaos zu kämpfen, gefestigter war denn je, fürchtete er sich vor dem, was der Dämon sagen würde, wenn sie sich das nächste Mal begegneten. Was er tun konnte mit der Tochter seiner einstigen Verbündeten.
Der erste Abschnitt der Reise verlief ereignislos. Das Chaos beschränkte sich auf Kratzgeräusche und ein paar spektakulär ekelhafte Ansichten über die Außenkameras. Sie brachten das Treffen mit den höherrangigeren Ravelnikovs erfolgreich hinter sich und überlebten das Lob ihrer Vorgesetzten.
Der zweite Abschnitt der Reise verlief ebenfalls ereignislos – abgesehen davon, dass Roland den Computer des Öfteren bat, die Klimaeinstellungen im Quartier anzupassen, um diese aufreibenden Stromschläge abzustellen. Aber der Computer war wie immer bockig und behauptete steif und fest, alles sei ideal abgestimmt. Professor Becker hielt seinen Vortrag über die Brahim-Sprache vor einer Abordnung des Imperialen Geheimdienstes. Roland hielt sich im Hintergrund und hoffte, das Kapitän Agnes Beagle ihrem missratenen Sohn nicht hinterher spioniert hatte. Sollte irgendeiner der am Treffen Beteiligten gewusst haben, wer der Milizleutnant der Ravelnikovs war, ließ er es sich nicht anmerken. Sie ließen sich überhaupt so wenig anmerken, dass am Ende weder Becker noch Roland wussten, ob sie irgendetwas bewirkt hatten. Roland wälzte sich nachts schlaflos in seinem Bett herum und fragte sich, ob es im Sinne der Ordnung war, diesen Menschen mehr Möglichkeiten an die Hand zu geben, um eine andere Rasse zu vernichten. Was Juros Brahim-Paladin-Kollege dazu sagen würde, sollten sie ihm eines Tages begegnen. Doch dann dachte er an Sandrose und an die Falken. Und dass ihn so schnell niemand davon abhalten konnte, selbst aktiv zu werden, jetzt, wo er die Adeligen auf seiner Seite wusste.
Nova Arctica rückte schneller näher, als Roland lieb sein konnte. Er hatte sich an den Rhythmus gewöhnt, in dem Anouk ihr Fläschchen verlangte. Rülpser, neue Windeln und schon hatte er wieder ein zufriedenes Kind. All die Sorgen, die er sich gemacht hatte, all die Ängste waren plötzlich bedeutungslos, wenn er in dieses kleine Gesicht schaute, das nur damit beschäftigt war, alles einzusaugen, die ganze Welt mit allen Sinnen.
Es war die geplant letzte Nacht im Chaos. Im Nachhinein fragte sich Roland, ob der Dämon ihn mit voller Absicht so lange wie möglich in Sicherheit hatte wiegen wollen. Ein Weinen kämpfte sich durch die Schichten des Schlafs an sein Ohr. Roland war auf den Beinen und mit der Hand an der Laserpistole, noch bevor seine Augen ganz geöffnet waren. Es war Anouk, doch es war nicht das Hunger-Weinen, das Nasser-Po-Weinen, nicht mal das Einsam-Weinen. Es war ein Geräusch, geboren aus tiefer Angst, wie er es noch nie von seiner Tochter gehört hatte und nie hören wollte. Das Licht flammte auf, viel zu grell, Roland blinzelte und bunte Kreise tanzten hinter seinen Augenlidern. Doch er hatte sie bereits gesehen: die leere Wiege.
Das Weinen war ganz nah, nur eine Tür entfernt. Roland stürmte aus seinem Quartier, und da lag Anouk auf der Konsole des Kommandobunkers, nur mit der Windel bekleidet, und fuchtelte mit den Fäustchen, das Gesicht tränennass. Roland ließ die Laserpistole fallen, er trug nur Shorts ohne Taschen und ohne Gürtel, war in zwei Schritten bei ihr und drückte sie an seine Brust. Da veränderte sich plötzlich ihre Stimme, und als Anouk die Augen öffnete, waren sie schwarz. Pupillenlos und ohne zu blinzeln starrten sie zu Roland empor.
„Wäh, wäh“, äffte der Dämon. Der Babymund verzog sich zu einem unkindlichen höhnischen Grinsen. „Ist das nicht eine schöne Familienzusammenführung?“
„Verschwinde“, krächzte Roland. Seine Zunge klebte ihm am Gaumen, er schluckte trocken. „Lass meine Tochter in Ruhe!“
Anouk streckte einen Arm aus und deutete auf seine Brust. Ein Blitzschlag fuhr durch Rolands Körper. Fast hätte er die Kontrolle über seine Gliedmaßen verloren. Er sank in die Knie und stützte seine verschränkten Arme auf dem Pult ab in dem Versuch, das Baby vor einem bösen Fall zu bewahren. Die amüsierte Stimme klang so absolut falsch, wie sie aus dem kleinen Körper kam. „Bist du dir da so sicher, dass es deine Tochter ist? Ich denke, ich habe einen mindestens ebenso großen Anteil an ihrer Entstehung wie du.“
Roland stemmte sich hoch. „Lügner“, keuchte er.
„Ich habe dir nie die unangenehmen Wahrheiten verschwiegen“, sagte der Dämon. Ein neuer Stromstoß zuckte Rolands Arme hinauf, doch er ließ das Mädchen nicht los. „Ramona hat mir ihr Fleisch und Blut zum Geschenk gemacht. Und sie wird viel mächtiger sein als ihre Mutter.“ Er kicherte.
Roland schmerzten die Zähne bei diesem Geräusch. Er sah in das fratzenhafte Gesicht seiner Tochter und erwartete, jeden Moment Fangzähne oder Krallen sprießen zu sehen. „Die Priesterin schläft gleich nebenan“, flüsterte er. „Ein Exorzismus und du bist Geschichte.“
Der ganze Babykörper bebte vor Erheiterung. „Nur zu, nur zu, versuch’s nur“, sagte der Dämon. „Deine Frau konntest du auch nicht retten. Du hattest nie wirklich eine Chance. Und nur weil du jetzt eine zweifelhafte Lichtgestalt auf deiner Seite glaubst...“ Er lachte. „Oh, ich kenne diese Uriel vielleicht besser als du...“ Das Baby quiekte, als sich Rolands Arme fester um den zerbrechlichen Körper schlossen. „Oh ja“, schnurrte die Stimme. „Das ist deine einzige Chance, mich loszuwerden. Zerquetsch mich, wirf mich auf den Boden, erschieß mich – und dein albernes Vaterherz gleich mit!“
Juro saß über seinen Protokollen, als er das Weinen aus dem Kommandobunker hörte. Er blickte auf die Uhr: 3.11. Anouk war ein ruhiges Baby und schlief gut, aber in manchen Chaosnächten hatte Juro seinen Freund durch die leeren Flure des Schiffes zur Kapelle gehen sehen, das jammernde Mädchen in den Armen wiegend. Ob das wirklich mit dem Kind zu tun hatte oder mit Rolands Ängsten, konnte er nicht sagen. Juro gähnte und beschloss, eine Pause einzulegen und seinem Freund etwas Gesellschaft zu leisten.
Er wandte sich der Kaffeemaschine zu, als er das Poltern hörte, dann gedämpftes Stimmengemurmel. Unwillkürlich griff Juro nach seiner Weihwassergranate und befahl dem Computer mit einem Handzeichen, die Tür zu öffnen.
Roland hatte ihm den Rücken zugewandt. Nur in Shorts bekleidet kniete er auf dem Boden, sein ganzer Körper zitterte. Juro scannte mit einem schnellen Blick den Kommandobunker. Nichts zu sehen, aber das musste nichts heißen. „Roland“, fragte Juro und trat zögernd einen Schritt auf den Freund zu.
„Lügner“, zischte Roland und kam schwankend auf die Beine. Dabei drehte er sich halb um. Juro durchzuckte eiskalte Angst. Die Augen seines Freundes waren wie von einem milchigen Film überzogen, blicklos. Aus seinem Mund kam eine zweite Stimme. Sie war so leise, dass Juro nur einzelne Bruchstücke verstehen konnte. „Ramona... ihr Fleisch und Blut... mächtiger...“ Anouk lag blinzelnd in Rolands Armen und brabbelte schläfrig, als sie Juro entdeckte. „Ein Exorzismus und du bist Geschichte“, stieß Roland hervor und Juro wusste, zu wem er sprach. Er wog die Weihwassergranate in der Hand. Vielleicht konnte er sie an der Decke zum Explodieren bringen, damit das Weihwasser auf die beiden herabregnete. „Roland, wach auf!“, rief er. Doch in welcher Dimension sich Roland auch immer gerade befand, dort gab es keinen Juro Trémaly.
„Das ist deine einzige Chance, mich loszuwerden“, sagte Roland plötzlich laut und deutlich mit dieser seltsamen, tiefen Stimme. „Zerquetsch mich, wirf mich auf den Boden, erschieß mich – und dein albernes Vaterherz gleich mit!“ Anouk quietschte leise, als sich Rolands Armmuskeln anspannten.
Juro fühlte, wie sich die Kälte in seinem Körper ausbreitete, als er die Laserpistole zog. Konnte er Anouk auffangen, bevor der tote Körper seines Freundes auf sie fiel? „Roland, beim Einen, bei der Ordnung, bitte!“, flehte er, als er die Waffe anlegte. Er konnte nicht zulassen, dass Roland das Kind tötete. Auch wenn es Ramonas Tochter war. Sein Freund würde ihm das nie verzeihen.
Plötzlich drehte sich Roland ihm frontal zu, kam ihm zwei Schritte entgegen, tastend wie ein Blinder, und drückte ihm Anouk in den waffenlosen Arm. Seine Augen fanden Juro noch immer nicht und das höhnische Grinsen, das gleich darauf seine Lippen verzog, galt auch nicht dem Sicherheitschef. „Du bist nicht so stark, wie du denkst“, sagte Roland mit seiner eigenen Stimme. Er trat zurück und presste sich die Schutzzeichen seiner ledernen Handgelenksschoner auf die Augen. Die Stirn gerunzelt vor Konzentration, sah er aus wie ein kleiner Junge, der zu lange aufgeblieben ist.
Plötzlich sah Juro im Augenwinkel eine leuchtende Gestalt aufblitzen. Er fuhr herum, die Laserpistole unwillkürlich im Anschlag. Das Bild flackerte, doch er erkannte das schmale, asiatische Gesicht, die schwarzen Haare, das schlanke Schwert. Iku Sturmrufer lächelte und ließ sein Katana durch die Luft pfeifen. Roland zuckte zusammen, als die rauchige Klinge durch ihn hindurch glitt. Er schwankte und fiel erneut auf die Knie. Juro wollte nach vorn springen, um ihn zu stützen, beherrschte sich aber. Roland nahm die Arme vom Gesicht und winkte Bridgets Adoptivsohn erschöpft zu. Der verbeugte sich und verschwand.
Als sich ihre Blicke trafen, sah Juro zu seiner großen Erleichterung, dass Rolands Augen wieder klar waren, wenn sie auch unendlich erschöpft dreinschauten. „Ist sie sicher?“, fragte Roland mit rauer Stimme.
Juro steckte die Laserpistole in die Halterung und stützte Anouk mit der zweiten Hand. Die Kleine war schon wieder eingeschlafen. Er hielt sie ihrem Vater entgegen.
„Das hab ich gespürt“, sagte Roland und lächelte leicht. „Der Paladin, der Ritter des Lichts wird auf sie aufpassen.“
„Pah, du!“, war alles, was Juro einfiel.
Mühsam zog sich Roland an einer Stuhllehne in die Senkrechte. „Kannst du sie heute Nacht bei dir behalten?“, fragte er. „Ich glaube zwar nicht, dass der Arsch nochmal auftaucht...“ Er massierte sich die Schläfen.
„Wo kam denn der Typ plötzlich her?“ Juro versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Bridgets Sohn? Hat der dir nicht schon mal gegen den Dämon geholfen? Wie ist er uns gefolgt? Oder klebt sein Geist an Bridget fest, seit sie...“
„Also war er wirklich da?“ Roland schüttelte den Kopf. „Es war nur so eine Idee, ein Versuch. Wenn der Dämon die Manifestation meiner Ängste ist und jeder Mensch Ordnung und Chaos in sich hat, kann ich mir auch Hilfe von der guten Seite herbeirufen. Ich glaube nicht mal, dass das ein echter Geist war oder Iku Sturmrufer. Er war nur der erste, der mir eingefallen ist. Weil er doch schon mal dem Dämon in den Arsch getreten hat.“ Roland gähnte. „Ich hab einfach so getan, als träume ich. Warum das geklappt hat, kann uns vielleicht Uriel erklären, wenn wir zurück sind.“
Juro konnte nur die Schultern zucken. „Komm, tragen wir Anouks Bettchen in mein Quartier. Willst du auf dem Sofa schlafen?“
„Nein danke“, sagte Roland. „Ich bin froh, dass ich den kleinen Schreihals mal bei dir abladen kann.“ Doch was Juro in Rolands Gesicht las, war kein Scherz – es war Angst.
Am nächsten Vormittag sprangen sie gleich in den Orbit von Nova Arctica. Zurück daheim erwartete sie die Nachricht, dass Ramona tot war.
*
„Du verdammter Lügner!“
Roland konnte sich gerade noch ducken, da zerschellte der Blumentopf mit einer von Uxams Orchideen hinter ihm an der Wand. Erde und Tonsplitter regneten auf seine Haare herab. Er fuhr herum, doch die wütende Erwiderung erstarb ihm auf den Lippen.
Anouks Gesicht war so bleich, dass sie ihrer Mutter ähnlicher sah denn je. Ihre Augen waren rot verquollen, aber trocken und fixierten in mit einem Blick, der ihm auf der Haut brannte. Funken tanzten zwischen ihren Fingern, als sie eine Weinflasche vom Absatz nahm und in seine Richtung schleuderte. Diesmal ging der Wurf weit daneben. Anouk kreischte und fegte mit einer Armbewegung den ganzen Sims leer.
Juro fuhr auf, aber sein Freund legte ihm die Hand auf den Arm. Roland lehnte sich zurück und wartete, während sich Anouk nach weiteren Dingen umsah, die sie zertrümmern konnte. Sie marschierte zu einem Alutablett mit Käsehäppchen hinüber und ließ es wie einen Frisbee über den Boden rutschen. Es hinterließ eine matschige Spur und stoppte mit einem befriedigenden Krachen an der Bank, auf der die Milizleutnants saßen. Die übrigen Gäste nutzten die Gelegenheit und drückten sich an dem Mädchen vorbei zur Tür hinaus. Wenige Sekunden später war die Offiziersmesse leer bis auf sie drei. Selbst Jasper hatte sich in Luft aufgelöst.
Roland stand auf und ging zu Anouk hinüber. „Fass mich nicht an!“, fauchte sie und schlug seine Hand weg. Schlug ihm gegen den Brustkorb. Trat ihm gegen das Schienbein. Und nochmal. Und nochmal. Roland stand einfach nur da. Er machte keine Anstalten, sich zu schützen, nicht mal, als sie ihm einen Stromstoß durch den Körper jagte. Schließlich hatte sie keine Kraft mehr und lehnte sich an die Theke. „Du... verdammter... Lügner“, schluchzte sie.
Roland schwieg, bis die Tränen wieder nachließen. „Wie hast du’s rausgefunden?“, fragte er schließlich leise.
„Die medizinischen Akten“, schniefte sie. „Stell dir vor, da steht der verdammte Vaterschaftstest drin. Warum wolltest du das überhaupt wissen, wenn du dich eh verdrückst wie ein Schlappschwanz!“
„Jetzt mach mal halblang“, sagte Juro und trat zu den beiden. „Du weißt überhaupt nicht...“
„Halt dich da raus, Dad!“, schnappte sie. „Du wusstest es, alle wussten es und keiner hat’s für nötig befunden...“ Sie drehte sich um und trat mit dem Fuß gegen die Theke.
„Sei nicht böse auf ihn“, sagte Roland. „Er hat einfach nur versucht, dir ein guter Vater zu sein, als ich es nicht konnte.“
Anouk fletschte die Zähne. „Was hat dich abgehalten? Zu viel Arbeit? Zu viele Aliens zum Spielen? An wen willst du denn Xandras Kind verschachern, wenn es erst mal geboren ist?“
Juro wunderte sich, dass Roland so ruhig blieb. Aber ein Blick in das Gesicht seines Freundes genügte um zu wissen, dass in ihm wieder das alte Hätte-Sollte-Könnte-Spiel tobte. Was nutzte das? Sie hatten vor Jahren diese Entscheidung getroffen. Ihnen beiden war klar gewesen, dass das Mädchen früher oder später anfangen würde, Fragen zu stellen. Dass sie so früh auf eigene Faust ihre Antworten suchen würde, war unglücklich, aber kein Grund, in Selbstvorwürfen zu vergehen. „Frag mal lieber, was Ramona getan hat, um es ihm unmöglich zu machen“, sagte Juro und ignorierte Rolands vernichtenden Blick.
„Mama, ja...“, sagte Anouk leise. „Sie ist nicht bei einem Chaosangriff gestorben, oder? Es gibt keine Aufzeichnungen, dass sie nach der Ankunft auf Nova Arctica jemals wieder einen Fuß auf ein Schiff gesetzt hat. Was habt ihr mit ihr gemacht?“
„Was wir...“, brauste Juro auf, doch Roland hob eine Hand.
„Wenn du alt genug bist, um sowas zu fragen, bist du auch alt genug, die ganze Wahrheit zu hören“, sagte er. „Setzen wir uns?“
Als Roland in die Krankenstation kam, sah er, dass es so schlimm war wie befürchtet. Ramona lag im Bett, ein Notebook auf der Decke vor sich, und würdigte das kleine, schlafende Würmchen in der Wiege neben ihr mit keinem Blick. Emanuelle starrte von der anderen Ecke der Krankenstation immer wieder zu ihr hinüber. „Sie hat mich gefragt, ob ich es nicht wegstellen kann“, flüsterte sie Roland zu.
Er musterte die sonst so gefasste Ärztin. „Hat sie Anouk schon mal gefüttert?“
„Nein. Sie hat keine Milch.“ Emanuelle ließ einige Instrumente klirrend in den Desinfektor fallen. „Ich wette, sie hat sich Tabletten besorgt. Unsere Flaschenmilch ist ohnehin besser, aber nicht mal die will sie ihr selbst geben. Als hätten wir nichts besseres zu tun als Babys zu hüten.“ Der Blick, mit dem die Ärztin ihn bedachte, sah verdächtig nach Mitleid aus. „Seit sie wach ist, hat sie eure Tochter kein einziges Mal angesehen. Die Kaiserschnittnarbe wird sie nicht lange im Bett halten. Bald wird sie hier raus schweben und Anouk liegen lassen wie... wie eine benutzte Serviette.“
Roland nickte nur und berührte kurz den Unterarm der Ärztin. Dann ging er zu Ramona hinüber.
„Hej.“
Sie blickte auf und bedachte ihn mit diesem Lächeln, dass ihn jedes Mal aufs Neue in einen kleinen, stotternden Jungen verwandelte. „Roland, wie nett.“
Er trat an das Bettchen. Er hatte Anouk nur einmal kurz nach der Kaiserschnitt-Operation gesehen, aber jetzt sie sauber, fest eingewickelt und schlief friedlich. Kaum zu fassen, wie winzig dieses Menschenwesen war! Aber alles so perfekt: Die Finger, die Stupsnase, eine erstaunliche Fülle von weißen Haaren... Roland schaute auf seine großen Hände. Wie leicht konnte er etwas kaputt machen an diesem Püppchen! „Sie ist wunderschön, nicht wahr?“
Ramona sagte: „Die Geburt verlief wie geplant, sie ist gesund und trinkt offenbar problemlos aus der Flasche. Das ist insgesamt sehr zufriedenstellend.“
Roland sah ihr ins Gesicht, aber die Maske saß fest. „Wie fühlst du dich?“, fragte er.
„Spätestens übermorgen kann ich wieder vom Büro aus arbeiten. Das ist im Moment alles noch etwas unbequem.“
„Dann ruh dich doch einfach aus. Meine Güte, vor ein paar Stunden hat man dir den Bauch aufgeschnitten!“
Sie lächelte wieder. „Sehr freundlich, dass du dich sorgst. Aber ich erwarte jeden Moment Miranda. Sie wird sich um das Kind kümmern. Ich glaube, ich hatte euch vorgestellt, oder?“
„Ja“, sagte Roland. Dann holte er tief Luft. „Ich habe Miranda gesagt, dass wir sie nicht brauchen werden.“
Ramona schnalzte mit der Zunge. „Sie ist gut ausgebildet. Du traust dich ja kaum, ein Baby hochzunehmen. Außerdem hast du wahrhaftig genug andere Aufgaben.“
„Ich ja. Aber du nicht.“ Er nahm ihr Notebook, klappte es zu und setzte sich auf den Bettrand.
Sie rutschte ein Stück zur Seite, bevor er ihr Bein berührte. „Was soll das heißen?“ Ihr Tonfall war einige Grad kühler geworden.
Vielleicht sollte er Juros Rat befolgen und so tun, als wäre alles auf dem Mist der Ravelnikovs gewachsen. Roland seufzte innerlich. Aber in dieser Beziehung hatte es schon genug Lügen gegeben. Wenn auch hauptsächlich von ihrer Seite. „Ich habe mit Achmed und Ali gesprochen. Sie stellen dich auf unbestimmte Zeit von deiner Arbeit frei, damit du dich auf Anouk konzentrieren kannst.“
„Unsinn.“ Ramona machte eine wegwerfende Handbewegung, die jeder Adeligen gut gestanden hätte. Sie hatte ihre Rolle verdammt gut verinnerlicht. „Man muss nicht studiert haben, um Windeln zu wechseln. Aber meine Arbeit an der Stabilisierung der Energieversorgung ist unverzichtbar, wenn wir den Raumhafen plangemäß eröffnen wollen.“
„Das sehe ich anders“, sagte Roland. „Es gibt genug Leute, die sich in die technischen Details einarbeiten können. Aber niemand kann Anouk die Mutter ersetzen.“
Sie lachte. Es klang fast echt. „Du und deine Gefühlsduselei, Roland. Du kannst mir nicht erzählen, dass ausgerechnet die Edlen Ravelnikovs darin mit dir übereinstimmen.“
„Sie sind altmodischer, als du glaubst.“ Roland dachte an Alis Angebot, ihm zur Hochzeit mit Ramona ein Kamel als Mitgift zu spendieren, und hätte fast gelächelt. „Außerdem haben sie sich nie wirklich wohl gefühlt bei dem Gedanken, dass eine ehemalige Dämonenpaktiererin ihre Reaktoren programmiert.“
Er spürte, wie sich Ramonas ganzer Körper unter der Decke anspannte. „Du hast es ihnen verraten?“, flüsterte sie.
„Nein. Die Adeligen haben ihre eigenen Informationsquellen.“ Er griff nach ihrer Hand. „Dass du nicht schon lange hingerichtet worden bist, zeigt, dass sie bereit sind, dir eine Chance zu geben, genauso wie ich.“
Sie zog ihre Hand zurück. „Chance?“ Eine Spur Bitterkeit schlich sich in ihre Stimme. „Die Chance, den ganzen Tag hinter einem Baby herzuwischen wie eine x-beliebige Hinterwäldlerin? Und dir am Abend ein warmes Essen bereit zu halten, wenn du von der Arbeit kommst?“
Diesmal seufzte Roland laut. Wieso kam er sich immer so lächerlich vor, wenn er mit ihr sprach? „Die Chance, wieder zu dir zurück zu finden. Du hast dir einen Eispalast gebaut, der kälter ist als alles, was da draußen ist. Seit deine Familie getötet worden ist...“
„Wag es nicht!“, zischte Ramona.
Ein Wimmern ließ sie beide herumfahren. Anouk war aufgewacht. Roland stand auf, beugte sich über die Wiege und hob seine Tochter hoch. Er stützte ihren Kopf und Nacken, wie er es bei Hanibals Anhang geübt hatte, und schaukelte sie sacht hin und her. Sie sah ihn mit großen, babyblauen Augen an. Einen Augenblick lang vergaß er alles andere. Seine Tochter! Wie sie ihn musterte, so ernst, so furchtlos! „Siehst du?“ Er hielt Ramona das Baby entgegen. „Schau dir dieses kleine Wunder an und sag mir, dass sie nicht dein Herz rührt!“
„Du kannst sie von mir aus den ganzen Tag mir dir rumschleppen und dich vollspucken lassen“, sagte sie, nun wieder ganz beherrscht. „Ich werde das nicht tun.“
Roland drückte ihr das Baby in den Arm. „Du wirst keine andere Aufgabe haben, als dafür zu sorgen, dass unsere Tochter glücklich ist“, sagte er. „Also gewöhn dich lieber schon mal dran.“ Er nahm das Notebook und ging, bevor sie die Worte wiederfinden konnte. Oder eher: flüchtete.
Was hatte Zaishen gesagt, als er ihr zum ersten Mal von seinem Plan erzählte? „Du kannst niemanden zwingen zu lieben, mein Sohn.“ Und im Laufe der nächsten Wochen musste sich Roland eingestehen, wie recht sie damit hatte. Er verbrachte mehr Zeit in Ramonas Quartier als seinem eigenen, wechselte Windeln, gab Fläschchen, badete Anouk, tröstete sie, fuhr sie dick vermummt kurze Strecken an der eisigen Luft spazieren – und vor allem sprach er mit ihr, sah sie an, schnitt ihr Fratzen. Eben all das, was Menschen so tun, wenn sie ein Baby sehen.
Alle Menschen bis auf die eigene Mutter, wie es schien. Ramona ging nie so weit, Anouk hungern oder in ihrem Dreck liegen zu lassen. Doch sie tat nie mehr als die allernötigsten Handgriffe. Einmal ertappte sie Roland dabei, dass sie der Kleinen eine Schlaftablette verabreichte, damit sie auch tagsüber Ruhe hielt. Seine Vorwürfe quittierte sie mit kühler Verachtung. Doch ein Raumhafen baute sich nicht so einfach von selbst, und Roland hatte nicht genug Zeit, Ramona permanent über die Schulter zu schauen. Zaishen sprach öfter mit ihr und schien zumindest für einige Tage eine Verbesserung zu bewirken. Alle anderen besorgten Besucher – Maria, Xandra, Anne und einmal sogar Emanuelle – kamen nicht mal durch die Tür. An einem Abend nahm ihm Ramona erst das Fläschchen ab, dann die Windeln und die Wanne. Ihr gehetzter Blick und ihre ruckartigen Bewegungen ließen Roland vermuten, dass sie eine Begegnung mit Bridget gehabt haben musste. Er hatte wieder die Stimme der Priesterin im Ohr: „Um wen geht es dabei – um sie oder um dich? Und wo bleibt eure Tochter dabei?“
Juro versuchte, ihn optimistisch zu stimmen. „Ein Kind ist nicht aus Zucker“, sagte er. „So schnell geht da nichts kaputt. Wir haben alle ein Auge auf Anouk und früher oder später wird Ramona es leid sein zu schmollen.“ Aber was wusste ein 19-Jähriger, der eine Doppelbeziehung zu zwei Frauen führte, die ihn jederzeit auf 100 verschiedene Arten töten konnten, schon davon, was es heißt, eine Tochter zu haben?
Eines Tages diskutierte Roland gerade mit Uxam die Formalien, die andockende Schiffe im künftigen Raumhafen durchlaufen mussten – das hieß, sie legte eine Liste vor und er strich die Hälfte, die unnötig kompliziert war –, als ihn eine Mail von Achmed und Ali erreichte. „Sag mal deiner Frau, sie soll die Füße still halten. Sie nervt total, dass sie wieder arbeiten will.“ Ramona hatte auf verschiedenen Wegen versucht, Roland in seinem Entschluss zum Wanken zu bringen. Zum Glück hatte sie nicht allzu viele gute Kontakte. Aber es war schlimm genug, mit Becker zusammenarbeiten zu müssen, auch ohne dass dieser ihm neuerdings auch noch Vorträge über den Umgang mit Frauen hielt.
Uxam wirkte nicht mehr länger überrascht, wenn sich Roland plötzlich zu einer seiner menschlichen Befindlichkeiten verabschiedete. Er hatte ein schlechtes Gefühl. Wenn Ramona verzweifelt genug war, um den Männern auf die Nerven zu gehen, die sie jederzeit umbringen konnten... Er betrat ihr Quartier, ohne sich anzumelden. Seine Unruhe wuchs, als er Raum für Raum durchquerte und jeden leer fand. Der Hover-Kinderwagen war ebenfalls verschwunden.
„Na, freu dich doch, wenn sie tatsächlich mal mit Anouk ausfährt“, sagte Juro, als Roland ihn in seinem Büro aufsuchte.
„Wo soll sie denn hingegangen sein? In Spaziergeh-Entfernung hat sie keiner gesehen.“
„Computer“, sagte Juro. „Wo ist Anouk Beagle?“
„Anouk Beagle befindet sich nicht auf dem Stützpunkt“, sagte die teilnahmslose Stimme.
Juro runzelte die Stirn. „Ortung aktivieren.“
„Ortung?“ Roland starrte seinen Freund an. „Hast du meinem Kind einen Peilsender eingepflanzt oder was?“
„Wenn du sie den ganzen Tag mit Ramona alleine lässt? Natürlich!“
Roland wusste, dass er eigentlich wütend sein sollte, aber momentan spürte er nur Erleichterung.
Juro rief bei Isabel an und erfuhr, dass Ramona mit einer außerordentlichen Genehmigung – vom Sicherheitschef selbst, nicht von Roland – vor fast vier Stunden einen Wagen genommen und die Sicherheitslinien in Richtung Gebirge passiert hatte. Nach einigen Kommentaren, die schnell von sarkastisch zu empört wechselten, bestätigte Bill, dass Ramona ihre elektrokinetischen Fähigkeiten eingesetzt haben musste, um diese zu faken. Roland schlug gegen die Wand und schürfte sich die Fingerknöchel auf. „Ich hole meine Rüstung“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Juro übernahm selbst das Steuer des Schwebers. Für einen Jäger war die Strecke zu kurz, das Risiko, das Signal mehrfach zu verpassen, zu groß. Was er den Spinnenreitern erzählt hatte, war Roland egal. Es war schlimm genug, Bridgets stille Gegenwart zu ertragen. Dass die Geschichte von der Dämonenpaktiererin auf Bewährung letztlich doch noch zu den Aufklärern durchsickern könnte, wollte er nicht riskieren. „Keine voreiligen Schlüsse, Bridget, okay? Was auch immer los ist, wir wollen sie lebend haben.“ Die Blicke, die ihm Juro und die Profikillerin zuwarfen, waren sich gespenstisch ähnlich.
Juro hatte sich Anouks Peilung auf das Interface seiner Rüstung gelegt. Es führte sie in ein Gebiet, das das Aufklärungsbataillon kurz nach ihrer Ankunft erfasst und dann als nicht nennenswert nützlich eingestuft hatte: keine Lebensformen, keine bedeutenden Bodenschätze, keine gute Lage. Der Fels war vergleichsweise weich und von Auswaschungen durchzogen. Keine komfortablen Höhlen, aber Windschutz genug, wenn man einige Stunden ungestört draußen verbringen wollte. Um ein Beschwörungsritual durchzuführen, beispielsweise.
Das Bild, das sich ihnen bot, erinnerte an jedes Klischee, das man sich je von Dämonenbeschwörern ausgemalt hatte – nicht, dass man das tat! Aber natürlich, sie musste ihn nie beschwören, dachte Roland. Bisher hat es wahrscheinlich genügt, an ihn zu denken. Auf einem Sims standen Kerzen – echte Kerzen aus seinem eigenen Bestand, wie Roland feststellte. In einem seltsam verzierten Kreidekreis lag Anouk. Sie lutschte an ihrem Fäustchen – den Daumen rauszustrecken, hatte sie noch nicht drauf – und schaute mit großen Augen zu den flackernden Flammen hinauf. Ein beißender Geruch hing in der Luft, als wären irgendwelche Kräuter verbrannt worden.
Ramona wandte ihnen den Rücken zu. Sie hatte die Kapuze ihrer gefütterten Jacke zurückgeworfen. Ihr Haar, sonst ein Musterbeispiel der Eleganz, stand ihr wirr vom Kopf ab. Sie streckte die Arme aus. In einer Hand hielt sie ein Küchenmesser. Blut tropfte von der Klinge auf den ketzerischen Altar. Sie hatte sich selbst in die Handfläche geschnitten. Roland lief ein Schauer über den Rücken, als sie in die Luft hinein sprach. „Brauchst du noch mehr, um das Tor zu öffnen? Ich biete dir das Mädchen an.“ Ihre Stimme zitterte, verwandelte sich in die eines verirrten, einsamen Kindes. „Wieso antwortest du nicht? Es tut mir leid, dass ich mich von dir abgewandt habe. Ich brauche deine Hilfe.“
Oh, hättest du diese Worte nur ein einziges Mal zu mir gesagt, dachte Roland. Hier, in Uriels Schatten, kannst du so lange nach deinem Dämonen-Freund rufen, wie du willst.
Bevor irgendjemand in der Höhle eine weitere Bewegung machen konnte, stand Bridget zwischen Anouk und ihrer Mutter und hielt Ramona ihr Schwert an die Kehle.
Ramona sah nicht einmal überrascht aus. Sie drehte den Kopf, obwohl die scharfe Klinge bei dieser Bewegung ihre Haut ritzte, und blickte Roland entgegen. „Willst du es endlich beenden?“, fragte sie. „Bist du es leid, mein Gefängniswärter zu sein?“
„Ramona, bitte!“ Sein Magen krampfte sich zusammen. „Ich will dir helfen. Ich wollte nie etwas anderes.“
„Helfen!“ Sie stieß ein kurzes, hysterisches Lachen aus. „Warum hast du mich dann nicht einfach in Ruhe gelassen? Warum musstest du mir das Balg aufhalsen?“
„Es reicht“, sagte Juro mit ausdrucksloser Stimme. Es war die Stimme, mit der er im Kampf sprach. Oder vor Hinrichtungen. Die Stimme des Sicherheitschefs. „Du hattest genug Chancen.“
Jetzt erst schien ihn Ramona überhaupt wahrzunehmen. Sie lächelte. „Meinst du? Sicher, dass du nicht noch eine Chance in meinem Bett haben willst? Das da hätte auch dein Kind sein können. Vielleicht beim nächsten Mal...“
Bridget hob eine Augenbraue. Roland wollte gerade sagen, dass von allen dummen Intrigen diese die dümmste... Doch ein Blick auf Juros Gesicht sagte ihm alles, was er wissen musste. Die Erkenntnis drohte ihn zu ersticken. Er ballte die Fäuste.
„Roland...“ Juro hob abwehrend die gepanzerten Hände.
Ramonas Lächeln wurde breiter.
Roland schloss die Augen, ließ das Visier aufschnappen und sog die kalte Luft in die Lungen. Dann ging er zu dem Felsvorsprung hinüber, hob Anouk auf und blies die Kerzen aus. „Ich habe sie so weit getrieben“, sagte er, ohne jemanden anzusehen. „Ich und meine Selbstsucht, die ich für Liebe gehalten hab.“
„Roland, nein“, sagte Juro heiser. „Wie viele Beweise brauchst du noch? Sie wird sich niemals ändern. Sie hat die Exekution mehr als verdient.“
Roland drehte sich langsam um, sah ihm fest in die Augen und sagte leise: „Das schuldest du mir.“
*
Noch während er erzählte, wusste Roland, dass es zu viel war für eine Zwölfjährige. Ramonas Unterwelt-Herkunft. Der Tod ihrer großen Liebe. Die Flucht mit Hilfe des Dämons. Die geplatzte Hochzeit. Die rauchende Schlange. Ihr erzwungenes Hausmütterchen-Dasein. Der Beschwörungsversuch. Ihr Selbstmord in dem großzügigen Gefangenenquartier, ohne Abschiedsbrief. Das Baby in Lebensgefahr durch den eigenen Vater. Und schließlich Rolands Unfähigkeit, nach all dem Verantwortung für seine kläglich zusammengeschrumpfte Familie zu übernehmen.
Anouk hatte längst aufgehört, ihn mit Fragen zu unterbrechen. Als Roland schließlich schwieg, saß sie einfach nur da und starrte auf das Limonadenglas in ihren Händen. Er hätte sie gerne in den Arm genommen. Doch sie hätte es nicht zugelassen. Nicht jetzt. Vielleicht nie wieder.
„Das glaube ich nicht.“ Sie klang wie betäubt. „Meine Mutter wollte mich unmöglich einem Dämon opfern.“
„Vielleicht nicht opfern“, sagte Juro. „Vielleicht nur als neuen Körper zum Besetzen anbieten.“ Roland trat ihm unter dem Tisch ans Schienbein.
„Nein“, sagte Anouk und blickte auf. „Ich habe diese Bilder von ihr in meinem Kopf. Ihre Stimme. Sie hat mich geliebt.“
„Anouk“, sagte Roland sanft. „Sie hatte beschlossen, niemanden mehr zu lieben. Was auch immer du für Träume hast, das kommt vom Chaos. Es ist eine von seinen Intrigen.“
„Das sagst du.“ Anouk sprang auf. „Wie wär’s, wenn ich mir mal die andere Seite anhöre?“ Sie zerschlug das Glas an der Tischkante und schnitt sich in die Hand. „He, Dämon!“ rief sie.
„Nein!“ Roland riss fast den Tisch aus der Verankerung. Sie wich ihm aus, das Gesicht zu einem Grinsen verzerrt.
Juro packte das Mädchen von hinten und pinnte ihm die Arme an die Seite. „Dieser Jähzorn, von wem hat sie den nur!“, keuchte er, als Anouk sich aufbäumte und versuchte, nach ihm zu treten.
„Komm schon, Dämon“, kreischte sie. „Hilf...“
In diesem Moment lief eine Erschütterung durch das Schiff, die alle drei zu Boden warf. Der Alarm trötete los und tauchte die Offiziersmesse in ein gespenstisches rotes Flackern. „Sir“, schrie der Spinnereiter-Navigator über Juros Comm. „Sir, wir...“
Juro wälzte sich von Anouk weg und griff nach dem Gerät. „Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht, Sir.“ Der Mann klang panisch, was an sich schon beunruhigend genug war. „Wir... wir treten in die Atmosphäre von Nova Arctica ein, Sir. Und wir sind viel zu schnell.“
„WAS?“, brüllten Juro und Roland wie aus einem Mund.
„Wir sind nicht mehr im Chaos. Das Chaos ist weg. Wir sind längst über die Sprungzone hinaus. WIE KANN DAS SEIN?“
„Ruhe bewahren“, keuchte Juro, während er sich aufrappelte. „Karen! Karen, kriegst du das Schiff in den Griff?“
„Ruhe“, zischte die Pilotin zurück. „Festhalten.“
Roland robbte zu seiner Tochter hinüber und zog sie an sich. Sie stöhnte, schien aber nicht bei Bewusstsein. Wahrscheinlich war sie mit dem Kopf aufgeschlagen. Blut spritzte von ihrer Daumenwurzel auf sein Hemd. Er sah sich nach dem Erste-Hilfe-Kasten um. In diesem Moment machte das Schiff einen scharfen Schlenker und die beiden rollten in einem Gewirr aus Armen und Beinen über den Boden. Offensichtlich funktionierten die Trägheitsdämpfer nicht. Roland prallte mit dem Rücken gegen die Theke. Anouks Gewicht presste ihm die Luft aus der Lunge. Er sah sich nach Juro um, der einen Arm um den Pfosten geschlungen hatte, mit dem der Tisch im Boden verankert war. In der anderen Hand hielt er sein Comm und gab Befehle. Wieder erzitterte das Schiff, doch hatte Roland das Gefühl, dass es langsamer wurde. Irgendwo kreischte Metall. „Festhalten!“, rief Karen über die Lautsprecher. „Alle festhalten.“
Roland spürte, wie er in die Luft gehoben wurde. Als ob die Schwerkraft aufhörte zu existieren. Dann schlug er wieder auf dem Boden auf. Er schaffte es, Anouk mit seinem Körper zu schützen. Das Licht erlosch. Kleine Bruchstücke von irgendwas prasselten auf sein Gesicht. Er schlang die Arme um seine Tochter und drückte ihren Kopf an seine Brust.
Dann war es still.
Die Notbeleuchtung erwachte flackernd zum Leben. Das trübe Licht ließ selbst Juro fahl aussehen. Er stand schon wieder auf den Beinen. „Meldung! Gibt es Tote? Wo sind wir?“
Karen atmete hörbar durch am anderen Ende. „Wir sind einige hundert Meter tief in den Schnee eingesunken, auf einer der kleinen Vorinseln nahe des Äquators. Das Schiff ist in einem Stück, die Lebenshaltungsfunktionen sind intakt. Wir sollten klar kommen, bis Hilfe da ist.“
Juro ließ sich neben Roland auf den Boden sinken, wie eine Marionette, bei der die Fäden durchgeschnitten worden waren. „Danke, Karen. Verdammt gute Arbeit.“ Er ließ das Comm sinken.
Roland sah ihn von unten herauf an. „Du hast es getan“, sagte er. „Du hast das ganze Schiff aus dem Chaos nach Hause gebracht.“
Juro nickte nur und lehnte sich zurück.
Roland richtete sich vorsichtig auf und bettete Anouk neben seinen Freund auf den Boden. Dann zog er das Diagnosegerät aus der Tasche. „An deiner Zielgenauigkeit musst du allerdings noch arbeiten, Ritter des Lichts“, sagte er. Juro schnaubte, schloss die Augen und schlief sofort ein. Seine Werte waren normal, er war nur sehr erschöpft. Roland stopfte ihm eine zusammengeknüllte Tischdecke als Kissen unter den Kopf und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann griff nach seinem eigenen Comm. „Ich übernehme das Kommando. Käptn Smith braucht Ruhe. In ein paar Minuten bin ich auf der Brücke, ich muss mich noch um Verletzte kümmern.“
Als sich Roland Anouk zuwandte, öffnete sie die Augen. „Roland?“
„Psst.“ Er strich ihr über die Stirn. Schleudertrauma, sagte der Apparat. Er schob die Hand unter ihren Nacken, um ihn zu stützen, als er sie hochhob. Als wäre sie noch ein Baby. Sie berührte vorsichtig sein Gesicht und hinterließ eine Blutspur auf seiner Wange. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie und vergrub das Gesicht in seinem Hemd. Roland spürte, wie die Tränen durch den Stoff sickerten. „Mir tut es leid“, sagte er, als er sie den Flur entlang trug, zu ihrem Zimmer in Juros Quartier.
Sie schniefte, dann kuschelte sie sich in seine Armbeuge. „Das will ich auch hoffen. Ich bin immer noch sauer auf dich... Papa.“
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