Ein Wiedersehen

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Version vom 3. März 2011, 19:31 Uhr von Larrine (Diskussion | Beiträge)
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Eine Gemeinschaftsproduktion von Moni und Larrine.

Juro ließ den Blick über die Ansammlung von Unterkünften, Gewächshäusern, Zuchtbetrieben, Lagerhallen und Bürogebäuden schweifen. Seine Rüstung hielt den kalten Wind fern und schützte ihn vor den Auswirkungen der unfreundlichen Temperaturen. All das hatten sie trotz der widrigen Umstände dieses Eisplaneten in kürzester Zeit hochgezogen. Er konnte es selbst kaum glauben. Die Ährengarde war einsatzklar und bereit, den ebenso neuen Raumhafen mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen. Er drehte den Kopf und schaute zurück. Seine Männer standen in Reih und Glied hinter ihm und warteten auf seinen Befehl. Auch dieser Anblick erfüllte ihn immer wieder mit Stolz. Er konnte sich auf jeden einzelnen von ihnen verlassen. Und auch sie hatten ihm ihr Vertrauen geschenkt und folgten ihm, egal wohin. Er war so stolz auf sie. Auf die ganze Unternehmung, die um so vieles erfolgreicher verlief als alles, was er vor seiner Ankunft bei der Ährengarde angepackt hatte. Er konnte sich glücklich schätzen, hier gelandet zu sein. Jemand anderes würde vielleicht auf diesen kleinen Außenposten herabsehen und sich wundern, was Juro daran fand. Aber für ihn war es mehr als nur eine Ansammlung von Gebäuden. Es waren Menschen, die dem Universum mit ihrem Blut und ihrem Schweiß ein weiteres Stück Lebensraum abgetrotzt hatten. Und er war dafür verantwortlich, sie zu beschützen. Zu seinem Erstaunen konnte er das inzwischen sogar ganz gut. Seit dem einen Mal auf der Hinreise, hatten Achmed und Ali nie wieder einen Grund zur Beschwerde gefunden. Juro hatte vor, sein Bestes zu geben, damit es dabei bliebe. „So Männer, der Erkundungsausflug ist zu Ende. Bringt die Rüstungen in die Waffenkammer und dann habt ihr Feierabend. Auf geht’s!“ Geordnet begaben sich die Gerüsteten zu einem der Gebäude und kurz darauf füllte sich die Kantine mit hungrigen Sicherheitsleuten. Juro seufzte. Das warme Essen würde noch etwas warten müssen, zuerst wollte er seinen Bericht schreiben. Er zog eine Grimasse. Das war zugegebenermaßen nicht unbedingt der interessanteste Teil seines Jobs.
Roland erwartete ihn im Büro. „Na, habt ihr was aufgestöbert?“
„Nein, zum Glück alles ruhig, bis auf ein paar dieser Yetis. Aber mit denen kann man problemlos kurzen Prozess machen.“ Juro stockte, als er Rolands Miene sah. „Roland, du weißt doch, dass sie weder für irgendwelche Arbeiten taugen und noch für sonst etwas zu gebrauchen sind. Außerdem schmecken sie furchtbar! Wenn also ein paar Yetis glauben, sie müssten sich unbedingt die Zähne an unseren Rüstungen ausbeißen, kann ich auch nichts machen. Ok?“
Roland nickte widerwillig. „Ja ich weiß, wir haben das schon diskutiert. Mir gefällt es trotzdem nicht.“
„Was ist in der Zwischenzeit hier passiert?“, fragte Juro seinen besten, aber manchmal etwas zu tierlieben Freund.
„Der Raumhafen ist für die ersten Flüge geöffnet worden. Der Kontakt mit dem Rest der Expedition kann also endlich wiederhergestellt werden. Die Raumhafenläden und Vergnügungstempel werden sich freuen. Sind schon ganz heiß darauf, endlich Geld zu verdienen.“ Er grinste. „Vielleicht kannst du dich ja auch mal loseisen und wir gehen was trinken!“
Juro runzelte zweifelnd die Stirn. „Ich weiß nicht, ich möchte das hier gerade nicht alleine lassen. Jetzt, wo alles erst angefangen hat, gut zu funktionieren. Wer weiß, was da noch auf uns zukommt.“
Roland verdrehte die Augen. Irgendwann würde diesem Kerl seine Uniform noch anwachsen. Pflichtbewusstsein gut und schön, aber man brauchte auch mal eine Pause. Seit Juro nicht mehr mit Ariane zusammen war, war es allerdings noch schwerer geworden, ihn dazu zu überreden. Manchmal hatte Roland den Eindruck, Juro wolle mit seinem Einsatz irgendetwas aus seiner Vergangenheit ausbügeln. Allen beweisen, dass er diesen Posten verdient hatte. Er zuckte die Schultern. Wenn er unbedingt meinte … Roland würde ihn schon noch dazu kriegen, sich die Raumhafenumgebung etwas genauer anzusehen.

Rolands Bemühen, Juro in eine der neuen Bars zu locken, bekam nach ein paar Tagen Unterstützung von unerwarteter Seite. Ein unbekannter Schweber hielt auf den Landeplatz der Ährengarde zu.
„Sir, wir kriegen Besuch. Ein Schweber eines der Schiffe der Expedition.“ Die professionelle Stimme der Kommunikationsoffizierin ließ nur eine leichte Erregung durchscheinen. Auch Juro fühlte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Der Raumhafen hatte tatsächlich den Betrieb aufgenommen. Es war lange her, seit sie Kontakt zu den anderen Schiffen der Flotte gehabt hatten. Wer das wohl war? „Fragen Sie, weswegen sie hier sind.“
Kurze Zeit später meldete Isabel: „Sie möchten den Kommandierenden sprechen. Da die Edlen Ravelnikovs nicht hier sind, werde ich sie an Sie und Leutnant Roland Beagle verweisen.“
Juro gab ein kurzes Einverständnis durch und machte sich auf den Weg zum Empfangsraum. Dort traf er mit Roland zusammen. „Hast du eine Ahnung, was die wollen?“, fragte sein Freund ebenso aufgeregt.
„Nein, aber lass es uns herausfinden!“
Es dauerte nicht lange, bis sich eine Abordnung Sicherheitsleute mit einer fremden Gestalt in der Mitte näherten. Zwei davon postierten sich unauffällig neben der Tür.
Juro machte eine einladende Geste und bat den Besucher, Platz zu nehmen. Unter der dicken Winterkleidung kam ein Mann unbestimmten Alters zum Vorschein, mit einem scharf geschnittenen Gesicht und leuchtend blauen Augen. Er schien innerhalb weniger Sekunden den Raum zu scannen, Roland und Juro einzuschätzen und dabei immer die Wachleute in seinem Rücken im Auge zu behalten. Juro wurde vorsichtig. Diesen Kerl sollte man wohl lieber nicht unterschätzen. Er verbarg sein Misstrauen hinter einem Lächeln und hieß den Besucher willkommen.
„Ich danke Ihnen für den herzlichen Empfang! Mein Name ist Arico Kosta und ich würde Sie im Namen meines Auftraggebers gerne zu einem Treffen einladen.“
„Ein Treffen? Zu welchem Zweck?“, fragte Juro mit gerunzelter Stirn. Auch Roland blickte etwas zweifelnd.
„Nun, den genauen Zweck wird Ihnen mein Auftraggeber gerne erläutern. Hier sei nur so viel gesagt: Es geht um die Zukunft dieses Planeten.“
Juros Augenbrauen schossen nach oben. „Das ist keine Kleinigkeit, über die Ihr Chef da reden möchte. Wieso sollte ich annehmen, dass er etwas mit der Entwicklung dieses Stützpunktes zu tun haben könnte?“
„Weil er Ihnen ein Angebot machen wird, das Sie nicht ablehnen können …“
Einen kurzen Moment konnte man in der anschließenden Stille sogar das leise Dröhnen der Generatoren von draußen hören. Dann lachte Kosta auf. „Verzeihen Sie, ich konnte einfach nicht widerstehen, diesen Satz einmal anzubringen. Aber im Ernst. Mein Auftraggeber ist durchaus in der Lage, Ihnen beim weiteren Ausbau dieses Planeten unter die Arme zu greifen.“
Juro kniff die Augen zusammen. „Und wie kommt er auf die Idee, dass wir das nötig hätten?“
Sein Gegenüber ließ sich vom leicht drohenden Tonfall nicht abschrecken. „Nun, wer hat nicht hin und wieder einmal Hilfe nötig? Das hier ist ein anspruchsvolles Unternehmen, das durchaus Unterstützung gebrauchen könnte, um noch effektiver zu funktionieren. Deswegen bitte ich Sie, meinen Auftraggeber am Raumhafen zu treffen. Ganz ohne Verpflichtungen natürlich.“
Roland warf Juro einen Blick zu. Dieser dachte einen Moment nach, bevor er sich an Kosta wandte. „Nun gut Mister Kosta. Dann sagen Sie ihrem Auftraggeber, wir werden zu seinem Treffen kommen. Aber wir bestimmen den Ort und den Zeitpunkt. Geben Sie mir eine Kontaktnummer und Sie werden die Daten noch heute bekommen.“
Diesmal überlegt Kosta kurz, bevor er sich darauf einließ. „Sie können ruhig eine Leibwache mitnehmen, wenn Sie sich dann wohler fühlen. Aber ich versichere Ihnen, dass sie nicht nötig sein wird! Mein Auftraggeber ist ein Geschäftsmann.“ Sein gönnerhaftes Lächeln war hart an der Grenze zu einer Beleidigung. Dann verließ er in Begleitung der Sicherheitsleute den Raum.
„Ist das das, was ich denke, dass es ist?“, meinte Roland besorgt.
Juro nickte. „Ich glaube schon.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell jemand versuchen würde. Da sind wir gerade mal angekommen und schon meint so ein Kleinkrimineller, uns beeindrucken zu können!“
„Du meinst, er hat nichts mit der Unterweltgilde zu tun?“
Juro zuckte mit den Schultern. „Kann auch sein. Wenn ja, dann müssen wir sie sofort aufhalten, bevor sie sich Hoffnungen machen. Aber dazu ist es nötig, dass wir sie besser einschätzen können. Deswegen werde ich auch zu diesem Treffen gehen. Wenn du nicht mitkommen willst, kann ich das verstehen …“
„Ich lass dich da doch nicht allein reinlaufen!“, unterbrach ihn Roland empört. „Wer weiß, was du dann wieder für einen Unsinn anstellst!“
Juro lächelte. „Gut. Und wir nehmen Bridget mit rein. Um den Rest kümmere ich mich noch. Wenn das hier nach dem üblichen Muster abläuft, haben wir vorerst tatsächlich nichts zu befürchten. Sie werden erst versuchen, uns einzuschätzen. Danach werden sie uns einschüchtern und uns schließlich nach ein paar Tagen und einigen „Unfällen“ einen Lösungsweg aufzeigen, der uns allen Ärger vom Hals halten wird. Pah! Die werden schon merken, mit wem sie sich anlegen wollen.“ Er knuffte Roland freundschaftlich in die Seite.
Dieser behielt seine Zweifel für sich. Aber auch wenn er Bridget nicht mochte, würde er sich besser fühlen, sie in einem Raum mit lauter Gangstern hinter sich zu haben. Damit würde sie vermutlich spielend fertig werden.

Zwei Tage später setzte Isis sie am Raumhafen ab. „Passt bloß auf euch auf!“, murmelte sie, bevor sie den Schweber wieder nach oben zog.
Juros Miene war grimmig. Er hatte die letzten beiden Nächte nicht besonders gut geschlafen. Warum konnten diese Leute die Ährengarde nicht einfach in Ruhe lassen? Aber er würde diesen Möchtegern-Ganoven zeigen, dass er seinen Schutzauftrag ihretwegen nicht vernachlässigen würde. Man durfte nicht einmal daran denken, ihnen auch nur den kleinen Finger zu reichen, denn dann war alles zu spät. Gut, dass er die meisten Tricks, die sie auf Lager hatten, durchschauen konnte. Das sollte ihm und Roland hoffentlich weiterhelfen. Und wie sagte Bridget immer? Mindestens zwei Pläne in der Hinterhand haben. Na dann konnte es losgehen!
Er registrierte die unauffällig geparkten Trikes in der Straße, die zu dem vereinbarten Treffpunkt führte. Ja, auch der „Auftraggeber“ hatte seine Vorkehrungen getroffen. Nur dumm, wenn jemand wusste, worauf man achten musste. Juro, Roland und Bridget durchschritten den Eingang zum „Spiderweb“, einem kleineren Club in einer der Seitenstraßen der Raumhafenumgebung. Alles glänzte noch nagelneu. Die Empfangsdame war eine gut aussehende Blondine mit einem kleinen Spinnen-Tattoo am Halsansatz, die Juro kurz zuzwinkerte, bevor sie die Gruppe nach hinten verwies. „Ihre Gäste sind bereits eingetroffen und warten schon auf Sie, Leutnants.“
Juro ließ kurz das Visier seiner Rüstung zuschnappen und prüfte mit Hilfe seines taktischen Kommunikationssystems die Standorte seiner Leute. Alle befanden sich an den vereinbarten Punkten. Sehr gut. Er öffnete das Visier, setzte ein leichtes Lächeln auf und straffte sich. Dann mal los. Roland hatte ebenfalls seine leichte Rüstung an, nur Bridget war wie immer ohne unterwegs. Der Knauf ihres Katanas ragte über ihre linke Schulter, ihr Gesichtsausdruck war vollkommen nichtssagend. Die beiden Männer neben der Tür zum Séparée sahen aus, als würden sie noch vor dem Frühstück Gorillas verprügeln. Allerdings gab Juro ihnen keine Chance gegen einen Gerüsteten. Er nickte ihnen zu und stellte sich vor. „Milizleutnants Smith und Beagle. Wir werden erwartet.“ Einer der Muskelmänner öffnete die Tür.
Der Raum dahinter war gemütlich eingerichtet. Ein paar Sessel, schwere Vorhänge vor den Fenstern, ein runder Tisch in der Mitte, eine Bar – allerdings ohne Bedienung – und ein Mann, der den Neuankömmlingen den Rücken zuwandte und aus einem der Fenster sah. Neben ihm standen Kostas und ein Gerüsteter. Juro holte tief Luft. Das musste der geheimnisvolle „Auftraggeber“ sein. Im Geiste ging er noch einmal kurz die abgesprochenen Codewörter durch, dann trat er ein und ging mit Roland im Schlepptau auf die Mitte des Raumes zu.
„Ich freue mich, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind, Milizleutnants“, begann der grauhaarige Mann und dreht sich um. „ Lassen Sie uns Platz nehmen und …“ Er stockte. Seine Miene wurde ungläubig. Auch Juro hatte mitten im Schritt angehalten. Das konnte nicht wahr sein! Beim Einen, das war doch …! „Vater?“, brachte Juro mit erstickter Stimme hervor.
„Juro? Du bist … Du lebst! Und … du bist ein Milizleutnant der Sicherheit?“ Beim letzten Satz klang seine Stimme, als hätte Juro ihm gerade berichtet, er würde seit neuestem auf den Strich gehen.
Roland starrte beide entsetzt an. Bridgets Miene war von neutral zu leicht interessiert gewechselt. Kostas zog eine Augenbraue hoch. „Das ist ja eine interessante Entwicklung, Mister Trémaly. Herzlichen Glückwunsch zum Wiederfinden des verlorenen Sohnes!“
Andrusch Trémaly starrte ihn nur kurz irritiert an und wandte sich dann wieder Juro zu. Dessen Gedanken rasten. So lange hatte er auf eine Nachricht von seiner Familie gewartet. Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben, jemals herauszufinden, ob sie die Flucht von diesem verdammten Planeten überlebt hatten. Gleichzeitig hatte er sich immer ein wenig davor gefürchtet, wie sein Vater auf sein neues Leben reagieren würde. Wie es aussah, würde er es nun herausfinden.
„Wie … wie geht es Mutter? Und die anderen? Sind sie … Ist alles in Ordnung mit ihnen?“
„Deiner Mutter geht es gut. Wir haben ein paar der Unsrigen auf der Reise durchs Chaos verloren, aber vielleicht sollten wir das in einem etwas privateren Rahmen besprechen. Komm mit, wir gehen erst mal zu mir.“
Juro nickte, immer noch leicht geschockt von dem unerwarteten Wiedersehen. Bridget meldete sich das erste Mal zu Wort. „Sir?“, meinte sie mit einem leicht dringlichen Unterton.
„Es ist ok, Bridget. Sie können hier auf mich warten. Es ist alles in Ordnung.“ Er sah ihr dabei vielsagend in die Augen und sie nickte leicht enttäuscht, wie es schien.
Roland legte ihm die Hand auf den Arm. „Soll ich mitkommen?“
„Nein … danke. Das ist schon ok so. Ich melde mich später bei dir …“ Juros Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, als er hinter seinem Vater aus der Tür trat.
Juro folgte seinem Vater zu einem Hotelkomplex ein paar Straßen weiter. Beide wechselten nur schweigend ein paar Blicke, zu sehr damit beschäftigt, die neue Entwicklung zu verdauen. Vorbei an ein paar irritiert blickenden Wachposten, wurde Juro in ein elegant eingerichtetes Hotelzimmer geführt. Dann erst drehte sich Andrusch zu ihm um, packte ihn an beiden Oberarmen und rang um Fassung, als er Juro von oben bis unten musterte. „Gut siehst du aus! Diese Rüstung steht dir, ich hätte dich fast nicht erkannt. Aber setz dich, ich hole uns was zu trinken. Ich denke, das können wir jetzt beide vertragen!“
Während sein Vater sich an der Bar bediente, suchte sich Juro automatisch den am stabilsten aussehenden Stuhl und setzte sich vorsichtig. Andrusch reichte ihm ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit, ließ sich ebenfalls in einen der Sessel sinken und schüttelte ungläubig den Kopf. „Es ist wirklich kaum zu glauben, welche Streiche uns das Universum spielt! Da hatte ich schon alle Hoffnung aufgegeben, jemals wieder etwas von dir zu hören und dann stolpern wir ausgerechnet auf einem Eisplaneten übereinander! Deine Mutter wird überglücklich sein, dich wiederzuhaben.“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen! Es ist eine ganze Weile her, nicht wahr?“ Juro kam es immer noch fast unwirklich vor, hier mit seinem Vater zu sitzen. „Du musst mir unbedingt erzählen, wie es euch ergangen ist! Wie geht es Jelena? Und Andrey? Und …“
Lachend unterbrach Andrusch seinen Sohn. „Keine Angst, deinen Geschwistern geht es gut. Sie werden vermutlich bald nachkommen, sobald unsere Angelegenheiten hier geregelt sind.“ Seine Stimme klang gedämpfter. „Leider weiß ich nicht, was aus deiner Cousine Tasha geworden ist, sie wurde genauso vermisst wie du.“
„Da kann ich dich beruhigen, Vater, ihr geht es gut. Sie hat es auf dasselbe Schiff geschafft wie ich, so konnte ich mich um sie kümmern.“
„Das wird ja immer besser! Eine wunderbare Nachricht.“ Andrusch strahlte ihn an. „Ich muss sagen, du hast dich ja anscheinend gut geschlagen.“
Juro traute seinen Ohren nicht. War das etwa ein Kompliment? Er konnte sich nicht erinnern, wann sein Vater ihn das letzte Mal gelobt hatte. Vorsichtig erwiderte er das Lächeln. „Ja, ich hab mir einiges erarbeiten können. Habe eine gute Position und einiges an Verantwortung. Und …“, er zögerte kurz „ es macht mir sogar Spaß.“ Zu seiner Erleichterung schien sein Vater darüber sogar erfreut. Juro schüttelte innerlich den Kopf. Es geschahen noch Zeichen und Wunder. Da hatte er sich ernsthaft gefragt, wie er seinem Vater und prinzipiellen Vorgesetzten der Unterweltgilde seinen Seitenwechsel auch nur ansatzweise erklären könnte und dann war es so einfach. Langsam begann er sich zu entspannen.
„Ich bin wirklich stolz auf dich! Ich hatte schon mit den verschiedensten Schwierigkeiten auf diesem Planeten gerechnet und jetzt erfahre ich, dass mein Sohn sich bereits in einer einflussreichen Stellung befindet. Wirklich ausgezeichnet.“ Er prostete Juro zu. „Dann lass uns auf die erfolgreiche Geschäftsübernahme anstoßen! Ein Hoch auf die Trémalys.“
Juro blinzelte verwirrt. Was meinte Andrusch da? Übernahme? Geschäfte?
„Ähh … Vater? Was genau meinst du damit?“, fragte er vorsichtig.
„Was ich damit meine? Na, dass es dank deiner Vorarbeit bedeutend schneller gehen wird, hier die neue Zelle der Unterweltgilde zu aufzubauen. Sicherheitschef …“, lachte er, „Was für eine ausgezeichnete Infiltrationstaktik! Als mir Kosta von eurem Gespräch berichtet hatte, habe ich mir zugegebenermaßen einen kurzen Moment Sorgen gemacht. Aber da wusste ich ja auch noch nicht, dass du dir den Posten genialerweise erschlichen hattest.“ Andrusch zwinkerte Juro zu.
Dieser saß wie vom Donner gerührt. Erschlichen? Infiltriert? Das konnte doch nicht wahr sein. Sein Vater hatte nichts verstanden! Kein Wunder, dass er ihn gerade eben noch gelobt hatte. Juro schloss die Augen. In diesem Moment verwünschte er fast den Augenblick, den er so lange herbeigesehnt hatte. Dann holte er tief Luft und blickte Andrusch fest in die Augen. „Vater, bevor wir uns weiter unterhalten, muss ich einiges klar stellen. Ich habe mich nicht eingeschlichen. Das heißt … naja es war anfangs tatsächlich eher Zufall, dass ich an die Stelle gekommen bin. Aber ich finde gut, was ich tue! Die Adligen, für die ich arbeite, vertrauen mir immerhin ihre komplette Sicherheit an! Meine Leute zählen auf mich. Ich hab das hier nicht angefangen, um es dann der Gilde in den Rachen zu werfen. Das … das kann ich nicht machen! Ich meine, versteh doch“, Juro blickte seinen Vater fast flehend an, „ich kriege das hier alles gut hin. Ich werde das nicht kaputt machen, indem ich meine Vorgesetzten hintergehe!“
Andrusch bewegte keinen Muskel. Seine dunklen Augen bohrten sich ohne Zwinkern in Juros. Dieser musste sich kurz zusammenreißen, um nicht unwillkürlich zurück zu weichen. Verdammt! Er kannte diesen Blick, der immer dann zum Einsatz gekommen war, wenn er etwas wirklich Dummes angestellt hatte. Aber er war schließlich keine zwölf mehr. Er war Oberhaupt eines mehrere hundert Mann starken Sicherheitstrupps, ein recht annehmbarer ESPer (stimmt, von seiner neuen psionischen Begabung wusste sein Vater ja auch noch nichts), erfahrener Chaos-Reisender, Bevollmächtigter zweier Adeligen und verantwortlich für das erfolgreiche Gelingen der Besiedelung dieses Planeten. Er würde jetzt garantiert keine Angst vor seinem eigenen Vater kriegen.
„Du willst damit andeuten, dass du dich deiner Verpflichtung als Mitglied der Unterweltsgilde entziehen willst? Einfach so? Dass mein Sohn von heute auf morgen beschlossen hat, doch lieber aus dem Spiel auszusteigen und zum Feind überzulaufen? Seine Familie im Stich lässt und durch sein eigennütziges Verhalten uns alle gefährdet?“ Eine Ader an Andruschs Stirn begann zu pochen.
Juro stellte sein Glas so hart auf dem Tischchen ab, dass es überschwappte. „Verpflichtungen? Hatte ich denn eine Wahl? Hat mich jemand gefragt, ob ich Lust darauf habe, mein Leben damit zu verbringen, zu stehlen und zu betrügen? Nein, verdammt, niemand hat es interessiert! Vor allem dich nicht. Wie praktisch, wenn man seine Kinder einspannen kann, wie es einem passt, nicht?“ Juros Atem ging schneller. Noch nie hatte er es gewagt, sich seinem Vater so offen zu widersetzen.
„Juro, jetzt sei vernünftig! Du bist und bleibst ein Trémaly. Das ist nichts was man einfach ablegen kann, wenn es die Mode gerade anders erfordert.“ Er beugte sich vor und sah seinem Sohn eindringlich in die Augen. „Du bist deiner Familie verpflichtet. Und deine Familie ist der Unterwelt verpflichtet. So überleben wir Trémalys! Das ist unsere Art, in diesem unfreundlichen Universum nicht unterzugehen. Das weißt du doch!“
Juro verdrehte die Augen. Diese Worte waren ihm nur zu bekannt. Er war schließlich damit aufgewachsen. „Ja ich habe es nicht vergessen. Ja, du hast mir das Überleben beigebracht. Dafür werde ich dir immer dankbar sein.“ Andrusch verzog den Mund zu einem leichten Lächeln und setzte an, etwas zu sagen. Doch Juro hob die Hand und unterbrach ihn. „Hier habe ich noch etwas anderes gelernt. Ich habe gelernt, das Richtige zu tun. Ich habe gelernt zu leben. Das werde ich niemandem opfern und schon gar nicht der Gilde! Akzeptier das lieber gleich, das spart uns einiges an Mühe.“
Sein Vater schloss den Mund und betrachtete ihn, als wäre er ein Fremder. Seine Miene wurde starr. „Ich hätte nie gedacht, dass du mich eines Tages so enttäuschen wirst, mein Sohn. Ich empfehle dir sehr, noch einmal gut darüber nachzudenken, wie du dich entscheidest. Du weißt, was mit denen passiert, die die Gilde verlassen wollen. Überleg es dir besser!“
Juro wusste es. Kopfgeld auf jeden, der die Gilde hintergangen hatte. Kein schöner Tod, wenn sie einen dann geschnappt hatten. Doch das Universum war groß und die Gilde nicht überall. Hatte er zumindest gehofft. Dass ausgerechnet sein Vater auf diesem Asteroiden die Flagge der Unterwelt aufpflanzen wollte, war schon ein richtig dummer Zufall. Juro hatte sich immer vorgestellt, er würde eines Tages seine Familie wiederfinden und ihnen voller Stolz berichten, dass er es gut getroffen hatte. Sie mit einem Teil seines Solds unterstützen, sich freuen dass sie am Leben waren und gleichzeitig glücklich, dass er nicht mehr Teil des Familienunternehmens war. Falsch gedacht. Seine Vergangenheit hatte ihn früher eingeholt als gehofft.
„Vater, auch du solltest dir noch einmal über die Situation Gedanken machen. Wie du schon sagtest, ich habe hier einen gewissen Einfluss. Ich könnte dafür sorgen, dass der Teil unserer Familie, der so wie ich nicht mehr scharf auf krumme Sachen ist, eine Arbeit und ein Auskommen findet. Das geht natürlich nur, wenn sie sich an unsere Regeln halten. Die Gilde muss nichts davon erfahren. Es gibt genug andere Planeten in diesem System, auf denen sie sich ausbreiten können! Bitte denk darüber nach!“
Andrusch ließ sich nicht anmerken, ob ihn die Bitte seines Sohnes erreicht hatte. „Morgen, 17 Uhr, in der Bluebar. Dann sehen wir weiter.“
Juro nickte. Er stand auf, öffnete die Tür und wandte sich noch einmal um. „Grüß Mutter von mir. Ich werde da sein.“ Er verließ das Zimmern und ging wie ein Schlafwandler den Flur entlang.
Eine Bewegung im Treppenhaus ließ ihn instinktiv nach der Waffe greifen. „Bridget! Was machen Sie … ach, vergessen Sie es. Hätte ich mir denken können. Ich nehme an, Sie haben die Unterhaltung verfolgt?“
Bridget stieß sich von der Wand ab. Sie sah ihn ernst an. „Eine komplizierte Situation, Sir. Ich befürchte, Sie werden sie nicht auf die ursprünglich geplante Art und Weise lösen?“
Juro schnaubte. „Ja, darauf hätte ich wirklich verzichten können! Und nein, das ist immer noch meine Familie! Aber ich kann auch nicht zulassen, dass sich die Gilde hier einschleicht verdammt noch mal!“ Eine leichte Delle zeigte sich in der Wand, als Juro seine behandschuhte Faust dagegen schlug.
Bridget legt ihm die Hand auf die Schulter. „Lassen Sie uns nach Hause gehen, Sir. Und dann sollten Sie sich über einige Dinge klar werden.“

Bereits seit einer halben Stunde saß Juro auf seinem Stuhl und starrte blicklos ins Leere. Was sollte er nur tun? Am liebsten wäre er sofort aufgebrochen, hätte seine Mutter in die Arme geschlossen und seinen Geschwistern die unglaublichen Abenteuer erzählt, die er erlebt hatte. Aber das wäre einem Eingeständnis an seinen Vater gleich gekommen. Warum musste so was Einfaches wie ein Wiedersehen mit den Menschen, die er liebte, zur Politik werden?
Als sich der Türsummer meldete, reagierte Juro zunächst nicht. Die Luke zischte auf und Roland trat ein. Juro hob nur kurz den Kopf, dann starrte er wieder auf die Tischplatte. Konnte ihn der Kerl nicht mal ein paar Minuten in Ruhe lassen? So lang niemand den Stützpunkt angriff oder die Energieversorgung explodiert war, konnte sich doch auch ein Sicherheitschef eine Auszeit gönnen! Doch Juro sagte nichts, als sich sein Freund wortlos neben ihm niederließ. Gleich würde er wieder mit irgendeiner Roland-esken Moralpredigt kommen. Als ob Juro nicht selbst wüsste, dass er unmöglich zulassen konnte, dass sein Vater alles unterlief, was sie hier aufgebaut hatten! Denk an deine Verantwortung, würde Roland sagen, denk an die Leute, die von dir abhängig sind, denk an...
„Ja, verdammt, hör auf!“, schnappte Juro und fuhr zu Roland herum. Dieser zog die Augenbrauen hoch. Juro merkte, dass er einen roten Kopf bekam. Dieser miese Kerl hatte ihn wieder drangekriegt! „Ich kenne alle Argumente, aber das... das ändert nichts daran, dass... meine Familie...“ Juro rang mit der Fassung. „Ich kann ihn nicht wie einen gewöhnlichen Kriminellen behandeln...“
„Na, dem Einen sei Dank“, sagte Roland.
Juro starrte ihn verblüfft an. „Was?“
„Ich dachte schon, die McGurk’sche Schule hätte dir alle menschlichen Gefühle diszipliniert.“
„Aber...“
„Hast du deine Mutter schon gesehen?“
„Nein, aber...“
„Worauf wartest du dann noch? Warum lässt du deinen Vater die Regeln bestimmen und dir so ein blödsinniges Ultimatum stellen? Klar kann er dich morgen in der Bluebar treffen, aber das soll dich doch nicht dran hintern, heute mal deiner Familie hallo zu sagen. Wie lange hast du sie nicht gesehen? Fünf Jahre?“
„Viel zu lange“, murmelte Juro und dachte an die tiefe, weiche Stimme seiner Mutter, wie sie bei der Hausarbeit vor sich hin summte.
„Also“, sagte Roland und zog Juro am Arm (was eine ziemlich unsinnige Geste war, weil Juro noch immer seine Rüstung trug und Roland seine nach alter Gewohnheit im Stützpunkt gleich abgelegt hatte), „du gehst jetzt und feierst ein bisschen Homecoming-Party. Und wenn dein Vater dich irgendwie vollquatschen will, verweist du ihn auf die Geschäftszeiten. Falls du ihn überhaupt triffst.“

Als Juro diesmal durch den Hoteleingang trat, nickte er den Wachposten zu, die sofort salutierten. Ja, so muss das sein, dachte er. Ich bin kein kleiner Junge, der seinem Papa hinterherrennt. Dies ist mein Stützpunkt, die Patrouillen hier unterstehen meinem Oberkommando. Andrusch ist es, der hier zu Gast ist. Trotzdem zuckte Juro nervös zusammen, als sich die Fahrstuhltür öffnete – doch es war nur ein Page.
Auf dem Weg nach oben fummelte Juro nervös an seiner Rüstung herum. Er öffnete das Visier, schloss es wider, öffnete es wieder, schließlich ließ er den Helm im Rückenteil verschwinden. Plötzlich schien ihm dieses klobige Ding völlig unangebracht, um seiner Mutter zu begegnen. Andererseits, wenn Andrusch die Tür öffnete... Wie kam sein Vater eigentlich dazu, ihm Mina vorzuenthalten? Juro merkte, dass langsam die Wut in ihm hochstieg. Erst vor wenigen Stunden war er hier in diesem Hotel gewesen, wahrscheinlich Tür an Tür mit der Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte! Und sein Vater redete nur über die Geschäfte, die er erledigen wollte. Er sah nicht den Sohn, sondern nur die Gelegenheit, die ihm ein korrupter Sicherheitschef bieten konnte. Roland hatte absolut recht. Was nahm sich sein Vater eigentlich heraus? Das würde er ihm sagen. Oh, fast wünschte sich Juro jetzt, Andrusch wäre da!
Beim Einen, höchstwahrscheinlich war er da! Wo sollte er sonst sein? Fing sein Vater etwa jetzt schon an, sein Netz zu knüpfen? Im „Spiderweb“ hatte er sich schon bewegt, als gehöre der Laden ihm... Juro konnte sich schlecht vorstellen, dass sein Vater schön brav im Hotelzimmer saß und auf das Ende des Ultimatums wartete, bevor er mit seinen Spielchen begann. Vor allem, wenn er sich sicher war, dass ein Sohn ihm gehorchen würde...
Es war ein Mitarbeiter seines Vaters, der ihm die Tür öffnete. „Was kann ich für Sie tun, Sir?“, fragte er, die Hand an der Waffe. Juro hatte schon „Verpiss dich, du Arsch“ mit mehr Freundlichkeit ausgesprochen gehört. Doch dass der Mann die Tür gleich geöffnet und den Laser nicht gezogen hatte, zeigte, dass sich der Trémaly-Clan und seine Anhängsel ihres Status noch alles andere als sicher waren. Sie waren noch in der „Spiel den guten, hilfsbereiten Bürger“-Phase. Manchen gelang das halt besser als anderen. Juro kam das Gesicht des Mannes bekannt vor, aber er kam nicht auf seinen Namen. Früher war er für Andrusch irgendwo im „Außendienst“ unterwegs gewesen, doch wie das graue Haar, die Hängebacken und die steife Haltung bewiesen, war er dafür jetzt offenbar zu alt. Doch als Bodyguard war der Kerl wahrscheinlich trotzdem nicht zu unterschätzen – und er war höchstwahrscheinlich auch nicht allein.
In diesem Augenblick überzog ein breites Grinsen das Gesicht des Mannes und er riss die Hoteltür vollends auf. „Du meine Güte, wenn das nicht Juro ist! Hab ja schon gehört, dass du dich hier rumtreibst, aber dich so zu sehn, in diesem Aufzug!“ Er griff nach Juros Oberarmen. „Stahlharte Muskeln, was? Warn Scherz! Schön, dich zu sehen.“
Die ehrliche Freude ließ ihn gleich um Jahre jünger erscheinen, und so fiel Juro auch der Name wieder ein. „Danke, Lugo“, sagte er mit einem etwas schiefem Grinsen. „Du siehst auch gut aus.“
„Du meinst, ich seh so aus, als ob mir das ruhige Leben gefällt, sag’s doch gleich, nur nicht so förmlich!“ Lugo machte Anstalten, Juro einen Knuff gegen die Schulter zu verpassen, hielt sich aber rechtzeitig zurück, bevor er sich verletzten konnte. „Andruschs kleiner Junge“, sagte er kopfschüttelnd. „Dein Vater ist aber leider nicht da. Du findest ihn wahrscheinlich in der Bluebar, wenn du ihm was zu sagen hast.“ „Ähm... nein, ich wollte nach meiner Mutter sehen.“
Lugo wand sich sichtlich. „Also, Junge, ich weiß nicht, dein Vater hat gesagt...“
Juro schüttelte das Bild der großen, imposanten Gestalt ab, die ihm als Kind den Kopf getätschelt hatte, und betrachtete den alten Mann, der mit seinem leicht gebeugten Rücken fast auf seiner Augenhöhe war. Er straffte sich in seiner Rüstung und schlug unwillkürlich seinen Kommandoton an: „Lugo, ich will meine Mutter sehen. Lass mich rein!“
Lugo zuckte merklich zurück. „Aber klar, Juro, entschuldige. Komm rein.“ Er trat zur Seite, um Platz zu machen. Als Juro an ihm vorbeiging, sagte er wie beiläufig: „Wenn du Andrusch anrufst, sag ihm, er braucht nicht vorbei zu kommen. Wir sprechen uns morgen.“
In dem Vorraum lungerte erwartungsgemäß ein zweiter Wachposten herum, diesmal ein unbekanntes Milchgesicht, das ihm einen Gruß zumurmelte, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen.
Die Tür zum Nachbarraum war geschlossen, doch Juro brauchte kein ESP um zu wissen, dass seine Mutter direkt auf der anderen Seite stand und darauf lauschte, was vor sich ging. Doch selbst jetzt wahrte sie vor den Untergebenen das Gesicht – ganz eine Trémaly – und wartete darauf, dass Juro anklopfte und eintrat. Erst dann fiel sie ihm um den Hals.
„Juro, mein Junge“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, nahm sein Gesicht in beide Hände und drückte ihm einen Schmatzer auf den Mund. Beim Einen, sie musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen! Juro sog den altbekannten Duft ihres Parfüms ein. „Warte, warte kurz, Mum...“ Er schob sie sanft zurück und leitete die Ausstiegssequenz seiner Rüstung ein. „So...“ ist es doch besser, hatte er sagen wollen, doch ihm brach die Stimme, als sie ihn an sich drückte. „Dem Einen sei Dank, wir dachten alle, du hättest es nicht geschafft“, schluchzte sie an seinem Ohr, während ihre schwarzen, langen Haare sein Gesicht streichelten und ihre Tränen an seinem Hals kitzelten. „Ich habe für dich gebetet...“
Juro tätschelte ungeschickt ihren Rücken. Wie klein und zerbrechlich sie wirkte. „Mum, Mum“, murmelte er, „ist ja gut, ich bin ja hier.“
Nach einer Weile trat Mina einen Schritt zurück und wischte sich die Augen. „Meine Güte, hier flenne ich wie ein altes Weib. Lass dich erst mal richtig ansehen!“
Juro trat während ihrer Musterung von einem Bein aufs andere und schielte aus den Augenwinkeln auf ihr Gesicht. Die Schminke war verlaufen und hatte sich als Schatten unter ihre Augen gelegt. Vielleicht waren da die Falten ein klein wenig tiefer, doch sonst sag Mina ganz genauso aus wie das letzte Mal, als ihr Sohn sie gesehen hatte. Was sah sie? Was dachte sie?
„Du siehst gut aus“, sagte Mina. „Du bist ein echter Mann geworden, dafür musste ich gar nicht hören, wie du mit Lugo gesprochen hast.“ Fast klang so etwas wie Bedauern in ihrer Stimme mit. „Du wirst deinem Vater nicht nachgeben, nicht wahr? Nein“, sie hob die Hand, als Juro Anstalten machte zu sprechen. „Ich möchte keine Erklärungen hören. Erzähl mir lieber von Anfang an, was passiert ist, seit wir von Surel II geflohen sind. Das wird mir mehr sagen als alles andere.“ Sie zog Juro zum Sofa und drückte ihn in den weichen Sitz.
Und Juro fing an zu erzählen. Doch wurde er das seltsam unwirkliche Gefühl nicht los, dass es vielleicht das letzte Mal war, dass er mit seiner Mutter sprach.

Zum zweiten Mal an diesem Tag betrat Roland eine Kneipe, diesmal die Bluebar. Er hatte Aoraki im Unterstand zurückgelassen, der extra zu diesem Zweck im Raumhafen eingerichtet worden war. Noch konnte er sich den Hütegreif ausleihen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Aotea war schätzungsweise noch weitere zwei Monate in der Lage, das Hüten der Mastodonen übernehmen. Dann würde ihre Gesundheit und die der Jungen in ihrem Bauch strenge Stallruhe nötig machen. Roland war nicht wenig stolz darauf, dass er es geschafft hatte, für Aoraki ein Weibchen aufzutreiben. Eine eigene Hütegreifzucht - das war fast so aufregend wie selbst Vater zu... Nein, das war ein Gedanke, an dem Roland nicht rühren wollte.
Mit aufgeklapptem Visier schlenderte er in die Bar und auf das Hinterzimmer zu, das der Verhandlungsführer der Unterweltgilde nach Bills Informationen seit seiner Ankunft als eine Art sporadisches Büro zu nutzen schien. Juros Vater! Was hatten beide für ein Gesicht gemacht, als sie im Spiderweb aufeinander getroffen waren! Aber eigentlich hatte Juro lang genug Zeit gehabt, sich darauf einzustellen, wie er damit umgehen würde, sollte er seiner Familie begegnen. Schließlich hatte Tasha bestätigt, dass die Trémalys irgendwo auf den 1492 Schiffen der Kolumbus-Expedition verteilt waren. Nein, das war nicht ganz fair: Juro hatte sich schon vor langer Zeit für eine Seite entschieden. Aber das machte es sicher nicht einfacher, seinem Vater zu begegnen. Meine Güte, wenn Roland selbst plötzlich Leopold gegenüber stehen würde oder Agnes! Roland wusste nicht genau, was zwischen den beiden abgelaufen war im Hotel, aber Bridget hatte genügend Andeutungen gemacht. Zwar hielt ihn die Profikillerin immer noch für ein Weichei und Roland hatte immer noch einen Heidenschiss vor ihr, aber zumindest hatte sie irgendwann beschlossen, dass er doch manchmal für etwas gut sein konnte. Das Ergebnis war, dass sie hin und wieder aus dem Nichts auftauchte, Roland fast einen Herzschlag versetzte und ihm auf ihre kryptische Art Informationen gab, die ihrer Meinung nach für ihn wichtig sein konnten. Meistens etwas, das Juro betraf. Eigentlich war Roland fest entschlossen gewesen, seinen Freund diese Geschichte allein durchstehen zu lassen. Aber Andrusch Trémaly schein eine harte Nuss zu sein.
Die Bluebar sah noch frisch und unbenutzt aus, in kühlem Metall und – welch Überraschung – Blau gehalten. Ein Techno-Schuppen, der eher den jungen Durchschnittsmenschen ansprach, außer Sichtweite der Adeligen. Nun ja, der normalen Durchschnittsadeligen, dachte Roland und grinste in sich hinein. Es stand nur ein Typ vor der Tür Wache und der war auch noch kleiner als Roland. Aha, so viele Leute hat Juros Papa dann doch nicht mitbringen können, um rund um die Uhr repräsentativ zu sein. Der Mann machte keinen glücklichen Eindruck, dass da ein Gerüsteter auf ihn zumarschiert kam. Doch als Roland ihm lediglich kurz zunickte und Anstalten machte, an die Tür zu klopfen, fiel ihm der Posten mit Todesverachtung in den Arm. „Moment, Mister Trémaly möchte nicht gestört werden...“
Milizleutnant Beagle“, sagte Roland und blieb so stehen, dass der Mann kaum Platz hatte zwischen Rüstung und Tür. „Mister Trémaly wird sicher Zeit haben für die Leitung dieses Stützpunkts.“ Er hämmerte mit der gepanzerten Faust gegen Tür und trat ein, bevor eine Reaktion von der anderen Seite zu hören war. „Sir, lassen Sie doch Ihre Waffe...“, kam der zaghafte Einwand des Postens, doch Roland ignorierte ihn.
Das musste man Andrusch Trémaly lassen: Falls er überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. Im Gegensatz zu seinem Sekretär (oder wie immer man den Kerl bezeichnen wollte, der hinter seinem Stuhl stand) zuckte Juros Vater auch nicht mit der Hand zur Waffe, als Roland herein polterte.
„Tschuldigung, wenn ich störe“, sagte Roland. „Haben Sie eine Minute, Mister Trémaly? Unter vier Augen.“ Juros Vater breitete in einer übertrieben großzügigen Geste die Arme aus. „Für Sie doch immer, Leutnant Beagle. Kosta, entschuldigst du uns bitte?“
Kosta war offenbar gut trainiert und hatte sich schnell wieder gefangen. „Natürlich, Mister Trémaly“, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken, und verließ den Raum.
„Setzen Sie sich doch“, sagte Trémaly. „Mein Sohn scheint Ihren Rat sehr zu schätzen, sonst hätte er Sie heute Morgen nicht zu unserer... Geschäftsbesprechung mitgebracht. Die wir der Umstände wegen leider sehr früh abgebrochen haben, nicht wahr?“
Roland setzte sich dem Mann gegenüber und stützte die Arme auf dem Tisch ab. „Mister Trémaly, ich will Ihre Zeit genauso wenig verschwenden wie Sie meine“, sagte er. „Lassen wir das Geplänkel weg, die zweideutigen Umschreibungen, das Rumtaktieren. Sie haben vor, hier Ihr kleines Privatimperium aufzubauen. Dass ausgerechnet Ihr Sohn Sicherheitschef ist, is zwar ne Überraschung, aber was soll‘s: Das ist wie‘n Freifahrtschein. Sie meinen, dass die Unterweltgilde leichtes Spiel hat, die wahre Macht an sich zu reißen, egal, ob die Expedition von der Ingenieursgilde bezahlt ist oder welcher Ravelnikov im Fürstensitz wohnt.“
Trémalys Miene wurde immer starrer. Er machte keine Anstalten, Roland zu unterbrechen. Wahnsinn, dachte Roland. So könnte Juro in 30 Jahren auch aussehen. Nein, korrigierte er sich gleich darauf, so kalte Augen wird er nie haben.
„Aber Sie liegen total falsch. Sie haben nich mitgekriegt, was aus Juro geworden ist, was er erlebt hat und wie er da hingekommen ist, wo er heute ist. Und damit mein ich nicht mal den Posten, sondern wie die Leute zu ihm aufsehen und sich auf ihn verlassen. Und dass er sich auf sie verlassen kann. Und auch wenn er seine Familie liebt, wird er sich das nicht von Ihnen kaputt machen lassen.“
„Das will ich von ihm selbst hören“, presste Trémaly zwischen den Zähnen hervor.
„Das hat er Ihnen schon gesagt, aber Sie haben nicht zugehört.“
Trémalys Kiefer mahlten, offenbar wartete er darauf, dass Roland noch etwas sagte. Doch der schwieg. „Nun, Sie scheinen ja einiges über unsere Familie zu wissen“, sagte Trémaly schließlich, als er seiner Stimme wieder zu trauen schien. „Dann ist Juros Verrat noch schlimmer, als ich befürchtet habe.“
„Oh“, Roland lehnte sich zurück, „um mich müssen Sie sich keine Sorgen machen. Was zwischen den Trémalys und mir besprochen wird, bleibt auch unter uns – selbst wenn sie zwischenzeitlich Smith heißen.“ Er verzog kurz den Mund zu einem humorlosen Grinsen. „Aber ich rate Ihnen: Lassen Sie meinen Freund in Ruhe, lassen Sie meine Leute in Ruhe, lassen Sie meinen Stützpunkt in Ruhe. Wer hierher kommt, kann seine Vergangenheit hinter sich lassen und neu anfangen – aber er muss sich an die Regeln halten. Sie werden feststellen, dass Ihnen das vielleicht gar nicht so schwer fällt wie auf anderen Planeten.“
„Mein Junge“, sagte Trémaly leise, „du hast keine Ahnung, mit wem du dich hier anlegst.“
„Doch, das weiß ich ziemlich genau. Ich weiß auch, früher oder später wird’s hier eine Unterwelt geben, bisschen Wettmanipulation, bisschen Drogenhandel, alles, wovon die Leute ihre Finger nich lange lassen können. Aber es ist was ganz anderes, wenn Sie meinen, über einen der höchsten Posten auf diesem Asteroiden alles an sich reißen zu können. Gegen Dummheit kann man nix machen, aber man kann dafür sorgen, dass es den meisten Menschen gut geht, nicht nur ein paar Typen mit fetten Knarren. Und was das Sich-Anlegen angeht“, jetzt beugte sich Roland vor, so dass er Trémaly direkt in die Augen sehen konnte, „Sie glauben doch selbst nicht, dass die Unterweltgilde wegen einem dummen Eiswürfel in einer Galaxie am Arsch des Universums einen Krieg vom Zaun brechen wird. Es kann noch sehr, sehr lange dauern, bis Sie hier genug Leute zusammen haben, um gegen unsere Sicherheitstruppen eine ernsthafte Bedrohung darzustellen.“
Jetzt fletschte Trémaly die Zähne. „Du meinst vielleicht, du kennst meinen Sohn. Aber ich habe ihn groß gezogen. Er wird sich wieder an seine Verantwortung gegenüber der Familie erinnern und er wird seinen Vater ehren und ihm keine Steine in den Weg legen. Oder ehren Sie Ihren Vater etwa nicht, Leutnant?“
Diesmal musste Roland wirklich lachen. „Netter Versuch, Trémaly. Sie meinen, Sie können mich bei meiner Gefühlsduselei packen. War nur leider knapp daneben.“
Trémaly verschränkte die Arme vor der Brust und verfiel in einen trügerischen Plauderton. „Wie stellen Sie sich das vor, Mister Beagle? Soll meine ganze Familie das aufgeben, was sie am besten beherrscht? Sollen wir brave Bauern werden und nach der Pfeife der Ravelnikovs tanzen, nur weil ein undankbares Kind auf dem Pfad der Tugend wandelt?“
„Das ist wohl zu viel verlangt“, sagte Roland und stand auf. „Aber Sie können Ihre Aktivitäten zum Beispiel auf andere Planeten dieses Systems beschränken, und zwar so, dass wir die Auswirkungen nicht spüren. Aber wenn Sie nur ein wenig offen sind, werden Sie merken, dass es sich auch hier ganz gut leben lässt. Und Juro würde sich sicher freuen, Sie öfter mal zu sehen. Machen Sie, was Sie wollen – aber zwingen Sie Juro niemals – niemals! –, sich zwischen seiner alten und seiner neuen Familie zu entscheiden!“
Roland wandte sich zum Gehen. Er streckte gerade die Hand nach dem Türöffner aus, als Trémaly hinter ihm sagte: „Weiß denn der Rest seine neue Familie, aus welcher alten ihr Sicherheitschef stammt?“
„Klar“, sagte Roland, ohne sich umzudrehen. Dann verließ er die Bluebar, ohne zu wissen, ob ihm Trémaly diese letzte Antwort geglaubt hatte oder nicht.

Juro schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Er träumte wirres Zeug, das in dem Moment, in dem er seine Augen aufschlug, aus seinem Gedächtnis flüchtete. Zurück blieb nur das Gefühl von tiefem Verlust und unendlicher Erschöpfung. Irgendwie verging der Tag mit Routineaufgaben und Menschen, die vor seiner miesen Laune aus dem Weg zu schmelzen schienen.
Eigentlich hatte Juro allein zum Treffen mit seinem Vater gehen wollen. Im letzten Moment entschied er sich doch dafür, Roland mitzunehmen – und ansonsten darauf zu vertrauen, dass Bridget nicht weit sein würde. Dass Trémaly-interne Angelegenheiten vor einem „Fremden“ diskutiert werden sollten, würde seinem Vater zwar nicht schmecken – aber Juro hatte das Gefühl, die stille Rückendeckung seines Freundes zu brauchen. Vor allem, weil seinem Vater nichts von dem schmecken würde, was er heute zu hören bekam.
Sie passierten gerade den Eingang der Bluebar, als Roland sagte: „Übrigens hab ich gestern schon mal mit deinem Vater geredet.“
Juro fuhr herum. „WAS?“
Roland nickte in Richtung der Wachgorillas, die vor einer Tür im hinteren Bereich der Bar Wache standen, und Juro senkte seine Stimme. „Du feiges Schwein, sagst mir das jetzt, wo ich dir schlecht den Kopf abreißen kann“, zischte er seinem Freund zu und trat mit einem letzten bösen Blick über die Schulter an die Posten heran. Roland winkte ein paar Typen zu, die an der Bar saßen. Juro hatte keinen Nerv, freundlich zu irgendwelchen Hilfsarbeitern zu sein, die sich hier die Hucke vollsoffen. Einer der Gorillas hielt ihnen die Tür auf.
Wenn Andrusch früher ein solches Gesicht gemacht hatte, war das für Juro das Zeichen gewesen, den Kopf einzuziehen und in Deckung zu gehen. Aber nicht diesmal, schwor sich Juro. Vater ist auch nur ein Mann.
„Ich sehe, du hast deinen Kollegen mitgebracht“, sagte Andrusch gedehnt. „Ich dachte, dir sei klar, dass dies ein Privatgespräch unter vier Augen werden soll.“
„Roland ist mehr als ein Bruder für mich“, sagte Juro. Er spürte, wie sich die Haltung seines Freundes neben ihm bei diesem überraschenden Bekenntnis straffte. „Manchmal ein etwas zu fürsorglicher Bruder“, fügte Juro mit einem kurzen Seitenblick hinzu.
„Ah, du sagst, du hast nichts von seinem Besuch gestern gewusst?“, sagte Andrusch. „Und ich dachte schon, mein Sohn ist nicht nur ein Wachhund der Ravelnikovs, sondern auch noch ein Feigling geworden.“
„Vater, so was bringt uns doch nicht weiter...“, setzte Juro an, da krachte es draußen vor der Tür. Es war in etwa das Geräusch, das ein Zweeieinhalb-Zentner-Mann machen würde, wenn er mit Schwung von oben auf einem Tisch aufschlug. Einem nicht besonders stabilen Tisch.
Beide Trémalys sprangen auf, nur Roland blieb entspannt sitzen. „Mister Trémaly, Sie haben mir gestern eine interessante Frage gestellt“, sagte er. Draußen erklang ein unterdrückter Aufschrei. „Sie wollten wissen, ob Sie uns damit erpressen können, dass Sie unseren Vorgesetzten etwas von der Vergangenheit ihres Leutnant Smith verraten. Deshalb...“
„O nein“, sagte Juro. Im gleichen Moment fiel die Tür aus dem Rahmen und zwei gepanzerte Gestalten stapften herein.
„Das war zu einfach, ei“, sagte die eine und ließ das Visier aufschnappen. „Jo“, brummte die andere und ließ ein zum Verwechseln ähnliches dunkels Gesicht mit schwarzem Vollbart sehen. Juro schwankte zwischen Entsetzen und Belustigung, als sich die beiden Ravelnikovs Andrusch zuwandten, der unwillkürlich an die Wand zurückwich. „Eh, du Arschloch. Bist du der, den wir hier vermöbeln solln?“
Roland stand langsam auf und lächelte beschwichtigend. „Nein, nein, das ist doch nur Juros alter Herr, den ich euch vorstellen wollte. Andrusch Trémaly – das sind die Edlen Achmed und Ali Ibn Hussein Ravelnikov."
Auf keiner Cocktailparty hätte er eine charmantere Vorstellung machen können, dachte Juro und musste ein hysterisches Kichern unterdrücken.
„Ach so“, brummte Ali. „Hallo, Juro-Lan. Familientreffen, was?“
„Hallo“, brachte Juro hervor. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sein Vater hatte gedroht, ihn an die Ravelnikovs zu verraten? Das konnte doch nicht wahr sein! Und Roland...
„Wir wollen eure Zeit gar nicht lang in Anspruch nehmen“, sagte Roland. „Mister Trémaly wollte nur wissen, ob euch klar ist, dass euer Sicherheitschef mal ein Unterwelt-Gangster war.“
Achmed schnaubte. „Was redet der Scheiße?“, sagte Ali. „Wissen wir doch schon konkret lang. Juro-Lan macht nen guten Job, nicht wahr, Achmed?“ Die beiden schlugen Juro synchron auf die Schulter, so dass sich die automatischen Magnethalterungen seiner Rüstung aktivierten. „Redet dein Alter Scheiße? Solln wir ihn doch verkloppen?“
„Nein, danke“, sagte Juro flach.
„Ei, Achmed, suchn wir uns was anderes. Issn scheiße-öder Laden hier.“ „Hab isch dir doch gesacht...“ Wie immer verfielen die beiden in eines ihrer endlosen, unverständlichen Streitgespräche, während sie über die herausgerissene Tür hinweg in den Hauptraum zurückgingen.
Juro atmete tief durch. Wie gerne hätte er jetzt eine weitere PSI-Kraft gehabt und Roland zugefunkt, was er von der ganzen Nummer hielt: Er spielte da ein verdammt gefährliches Spiel! Zwar war spätestens seit dem Rüffel mit der Topfpflanzen-Rettungsaktion klar gewesen, dass Achmed und Ali Juros wahre Identität kannten – doch die beiden Adeligen waren unberechenbar. Genauso wie sein Vater, wenn man ihm nicht die Gelegenheit gab, sein Gesicht zu wahren.
Roland konnte seine Gedanken vielleicht nicht hören, doch war er offensichtlich klug genug zu merken, dass er sich nach dieser Nummer besser im Hintergrund halten und alles weitere Juro überlassen musste. Für einen Mann von seiner Intelligenz benutzte Roland viel zu oft die Holzhammermethode...
Juro hatte seinen Vater noch nie so sprachlos gesehen. Selbst als der tot geglaubte Sohn gestern plötzlich vor ihm stand, hatte er die Situation schnell wieder an sich gerissen. Andruschs Weltbild ist wohl ziemlich ins Schwanken geraten, dachte Juro. Gut.
Er nutzte diese Gelegenheit. „Siehst du, Vater? Ich kann darauf vertrauen, dass mich die beiden nicht an irgendeine andere Gilde verraten. Genauso wie sie mir vertrauen, dass ich meine Arbeit gut mache. Es wäre schön, wenn auch du mir vertrauen würdest. Nur, weil ich nicht mehr länger der Unterweltgilde angehören will, bin ich noch lange kein Verräter. Ich gehe nur einen eigenen Weg, zu dem ich mich selbst entschieden habe, als erwachsener Mann.“ Juro konnte Andruschs Gesichtsausdruck nicht deuten. Die drei Männer standen noch immer mitten im Raum, den Tisch zwischen sich. „Mein Angebot steht. Ich habe mich so gefreut, Mutter wiederzusehen, und dich auch, auch wenn es vielleicht nicht unbedingt auf Gegenseitigkeit beruht. Ich liebe meine Familie. Und ich werde alles tun, damit es euch hier gut geht. Aber ich kenne auch meine Pflicht gegenüber allen Menschen, die hier leben. Allen!“
„Juro...“, setzte Andrusch an.
„Nein, hör einfach zu. Ich bin bereit, mir anzuhören, was die Familie plant, was ihr für Vorstellungen habt, so, wie du sie dem Sicherheitschef unterbreiten wolltest, bevor du gemerkt hast, dass ich es bin. Und dann werde ich meine Gegenvorschläge unterbreiten. Aber vielleicht solltest du einen Unterhändler einsetzen, mit dem ich sprechen kann, ohne, dass uns persönliche ... Differenzen im Weg stehen. Und ihr solltet euch erst mal mit den Gesetzen dieses Stützpunkts vertraut machen, bevor ihr daran denkt, sie zu brechen.“
Andrusch fuhr auf. „Du kleiner...“
„Vater, das Treffen ist beendet. Ich stelle dir kein Ultimatum. Du weißt, wie du mich erreichen kannst. Vielleicht begegnen wir uns auch im Hotel. Denn ich werde mich nicht von Mum fernhalten, nur weil wir beide Streit haben.“
Juro drehte sich um und Roland beeilte sich, ihm die Tür aufzuhalten. Als sie in den Hauptraum traten, humpelte eilig einer der Gorillas an ihnen vorbei – allein. Gierig sog Juro die kalte Luft ein, die ihnen am Ausgang entgegen schlug. Eine Weile liefen die beiden Freunde schweigend durch die leeren Seitenstraßen. An einer Ecke sah Juro, dass Bridget ihnen jetzt offen folgte. Sie blieb aber in einem diskreten Abstand.
„Verdammt, das war hart“, sagte Juro schließlich.
„Für ihn“, sagte Roland.
„Ich weiß nicht, ob er so weit über seinen Schatten springen kann.“ Jetzt, wo er das Wortduell gegen seinen Vater erst einmal gewonnen hatte, fühlte sich Juro ausgelaugt und deprimiert.
„Och, wart nur ab, bis ihm die Ehrwürdige Jeska erst mal den Kopf gewaschen hat“, sagte Roland.
Juro blieb stocksteif stehen. Er hatte eigentlich geglaubt, dass es heute keine Überraschungen mehr geben könnte. „Du... du hast ihn bei meiner Großmutter verpetzt?“
„Na ja, wenn er sich so kindisch-bockig aufführt... Seit wir das Oberkommando über den Raumhafen haben, ist es nicht besonders auffällig, wenn wir Kontakt zu der Flotte aufnehmen. Es war zwar ein kleiner Aufwand für Bill, eine Nachricht direkt an sie durchzustellen, aber ich denke, es hat sich gelohnt.“
Juro stöhnte auf. „Eines Tages bring ich dich um, Roland.“
„Als Profikiller der Unterweltgilde oder ganz offiziell als Sicherheitschef?“
Die beiden Freunde starrten sich an. Und lachten los.



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