Chaossprung in den Tod

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Juro:

Sie ist tot. In meinen Kopf passen anscheinend keine anderen Worte mehr hinein. Ich versuche zu tun, was nötig ist, um die Situation unter Kontrolle zu bringen, doch alles was ich anfange ergibt keinen richtigen Sinn. Sie ist tot. Meine wunderschöne Ariane. Bilder und Gefühle trudeln durch meinen Kopf - ein Kuss unter Wasser, ihr langes Haar zwischen meinen Fingern, ihr Lachen, der leichte Druck ihrer Hand, das Flattern in meinem Bauch wenn ich sie ansehe. Was ich nie wieder tun werde. Ich bin kurz davor, einfach zusammenzubrechen, aber ein Blick in die schweigenden Gesichter meiner Leute hält mich zurück. Ich muss durchhalten. Zumindest noch eine Weile. Bis sich das Chaos des Kampfes gelegt hat. Bis ich einfach die Tür hinter mir zu machen kann. Aber nein. Da sind noch ihre Sachen in unserem Zimmer, ihre Musik im Player, ihr Shampoo im Bad. Das schaffe ich nicht. Als Roland mir anbietet, bei ihm zu übernachten, bin ich ihm dankbar. Auch wenn die leise Stimme in meinem Kopf flüstert: „Das ist nur ein Aufschub. Sie kommt nicht wieder. Sie ist tot!“ Als ob ich das vergessen könnte, auch wenn ich es mit Ablenkung versuche.

Mbutu ist ebenfalls tot. So seltsam es klingt – das gibt mit irgendwie den Rest. Er ist der einzige außer mir, der Ariane kannte, vermutlich sogar besser als ich, da will ich mir nichts vormachen. Der einzige Mensch, mit dem ich um sie trauern könnte, hat mich allein zurück gelassen. Ich will vor Wut über diese Ungerechtigkeit schreien, aber der Laut erstickt irgendwo in meinem Hals und kommt nicht heraus. Am schlimmsten ist der Gedanke, dass ich nicht schnell genug war, um sie retten zu können. Warum bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass sie lange genug durchhalten wird? Nur weil ich sie geliebt habe? Was für ein schwacher Schutzschild! Am Ende ist sie es, die uns gerettet hat. Zusammen mit Mbutu hat sie dafür gesorgt, dass wir nicht alle draufgegangen sind. Ich werde es ihr nie vergelten können. Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte! So wie Bridget, die den Angriff vorausgesehen hat. Ihre ESP-Sinne sind einfach so viel besser entwickelt als meine. Wenn ich Ariane nur hätte da rausholen können. Oder wären wir dann einfach zusammen gestorben? Ich weiß es nicht … Ich weiß gerade gar nichts mehr, außer dass dieser verdammte Schmerz aufhören soll, der mir alles zerreißt.

Wenigstens ist Isis nicht auch noch gestorben, sondern liegt im Tank und wird morgen früh vermutlich wieder munter sein. Ausgerechnet ihre Patrouille war in direkter Nähe eines der Entertrupps. Dem Einen sei Dank ist die Verstärkung hier rechtzeitig eingetroffen! Ja ich sollte wirklich dankbar sein, dass so viele am Leben geblieben sind. Ich werde mich in einer Weile vielleicht auch wirklich darüber freuen können. Jetzt kümmere ich mich um Ariane. Ihr Gesicht ist noch genauso hübsch wie immer. Ihr Körper ist ein einziges Wrack, aber ihr Gesicht … oh Gott. Ich kann es einfach nicht glauben, dass sie nicht wieder aufwachen wird. Die letzten Tage verschwinden in einem Nebel, aus dem immer wieder Ariane auftaucht. Die wieder aufgenommenen Unterrichtsstunden, das letzte Mal Schwimmen gehen vor dem Chaos, Sandrose, die gerade aufwacht, Isis, die nicht mit mir redet, Achmed und Ali, von denen ich nur hoffe, dass sie tatsächlich an Bord sind … Und dann der Alarm. Meine Leute haben schnell reagiert und sich ins Gefecht gestürzt. Der Laderaum war der einzige Raum, aus dem keine Rückmeldung kam. Zu diesem Zeitpunkt fiel mir das klare Denken noch erstaunlich leicht, obwohl ich wusste, dass Ariane da drin war. Lun holen, die Tür öffnen, feuern, vorrücken. Dann der Hinterhalt, ich werde nach oben gerissen, stecke in einem ekelhaften Tentakel fest, habe dafür aber einen guten Überblick, gebe Kommandos und versuche, nicht entzwei gerissen zu werden. Irgendwann der Punkt, an dem mir klar wird, dass wir verloren sind. Meine Leute sterben wie die Fliegen, es gibt keinen Nachschub, egal wie viele Feinde wir töten, es kommen immer mehr nach. Dann ein Lichtblitz. Sterbende Mutanten. Ich blicke mich um und kann nicht glauben, dass es vorbei sein soll. Aber das ist es. Wir sammeln uns. Endlich kann ich sie suchen gehen. Es ist einer der Klone, der sie dann schließlich findet. Ihre Hand ruht noch auf dem Kontrollpaneel, mit dem sie das Eindämmungsfeld aktiviert hat, und uns so vor dem puren Chaos beschützt hat. Meine Ariane.

Ich werde jetzt versuchen zu schlafen. Vielleicht gelingt es mir ja sogar. Gute Nacht Ariane. Ich liebe dich.



Roland:

Im einen Moment freue ich mich wie blöd, dass Sandrose wieder wach ist, im nächsten erschieße ich einen ihrer Verwandten. Kein Wunder, dass der Dämon hämisch hinter mir her kichert, wenn ich durch die Schiffsflure gehe. Ich möchte nicht schlafen, aber ich bin so müde nach diesem Kampf... Und ich weiß einfach nicht, was ich tun kann, um Juro zu trösten! Was kann ich schon sagen? Ich habe noch nie einen wichtigen Menschen im Leben verloren - ich habe noch nie einen so wichtigen Menschen im Leben besessen! Ach, an Ariane selbst denke ich kaum, so schlimm das klingt, ich hab sie einfach zu wenig gekannt, aber sie war so tapfer! Juro ist total neben der Spur, entweder sitzt er rum und starrt Löcher ins Nichts, oder er versucht, sich mit strenger Arbeit abzulenken und macht alle nur nervös. Aber vielleicht braucht er einfach Zeit und Raum für sich...

Dabei sah alles ganz gut aus: Wir waren alle froh, endlich von Farmwell weg zu sein und wieder in einen geregelten Tagesablauf einsteigen zu können. Uxam bringt mir jetzt nicht nur Verwaltung, sondern auch Limkamar-Zeichensprache bei, ich trainiere mit den Sicherheitsleuten den Umgang mit Basiliskenwölfen, Isis ist trotz ihrer Motzphase mit Juro eine tolle Fluglehrerin (sorry, Llandor, ich denk an dich!) und ich fange noch nicht mal an zu ahnen, wohin die Lehren von Tians "ganzheitlicher Medizin" noch führen werden. Dann hat Professor Becker nachts um drei mit einem Notsignal alle kirre gemacht, weil Sandrose durch den Start ungeplant in die Aufwach-Phase geworrfen wurde. Aber ich konnte ihm nicht böse sein - er hat sich echt rührend um sie gekümmert, vor allem seine Aktion mit dem Yamis-Brei! Sandrose erinnert sich nur vage an das, was ihr die Alienhasser angetan haben, und das ist wohl gut so. Momentan ist sie noch in der Krankenstation - eigentlich sollte sie sich ausruhen, aber jetzt ist sie schon wieder Aushilfe bei den vielen Verletzten...

Ich habe Schwester Zaishen den Überfall auf Hatoshis Grundbesitz gebeichtet und dass ich zum ersten Mal seit meiner Kindheit richtig, richtig Angst vor dem Chaos habe. Sie hat mir einige Gebete aufgebrummt, aber natürlich ist die Sache nicht so einfach. Und ich hab recht behalten: Es ist ein Wunder, dass die Krautfass überhaupt weiterfliegen kann. Ein Wunder, das wir zum großen Teil dem Opfer von Mbutu und Ariane zu verdanken haben, wie es scheint. Genaueres wissen wir erst, wenn Bill alle Daten ausgewertet hat. 147 tote Sicherheitsleute, 47 tote Zivilisten, rund 100 Verletzte, bei den Erzräubern und Betonieren noch viel mehr, und dieser verdammte Kapitän spricht von "Unannehmlichkeiten" und "geringen Schäden in sekundären Bereichen"! Auch wenn das aus seiner tollen Perspektive auf der sicheren Brücke hoch über dem Pöbel so aussieht - wie kann man nur so respektlos sein angesichts menschlicher Verluste?! Und Ramonas Tonfall, als ich ihr von Arianes Tod erzählte: "Wie bedauerlich." Wieso bin ich überhaupt zu ihr? Sie hat gar nichts mitbekommen von dem Enterversuch! Ah, ich bin so müde, ich bin es so leid!

Als wir ins Chaos sprangen und die Außensensoren irgendwie gestört wurden, hat noch niemand an etwas schlimmeres gedacht als einen dummen Chaos-Effekt. War das wirklich alles Zufall? Oder hat ein dämonisches Wesen das alles eingefädelt? Diese Welle, die uns mitten in eine Chaos-Rick schleuderte. Die ganzen dämonisch korrumperten und mutierten Menschen und Aliens, die dort gestrandet waren und in Scharen von allen Seiten unsere Außenhülle durchbrachen. Das Ablenkungsmanöver im Nostromo-Hangar - das klingt alles nicht nach einer chaotischen Spontanaktion. Ariane und Mbutu bewachten im Lagerraum die Atomwaffen, und als genau dort irgendein Vieh die Wand niederriss, waren sie hinter den Vakuum-Schotts gefangen, ohne Kontakt zu uns. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis Lun die Tür aufsprengen konnte.

Das Schießtraining bei Betsy hat sich ausgezahlt: Als der erste Feind über die Köpfe der Sicherheitsleute auf mich zusprang, habe ich geschossen, ohne nachzudenken. Obwohl ich immer im Stillen Betsys "Erst schießen, dann Fragen stellen" und "Schießen um zu Töten"-Philosophie in Frage gestellt habe. Ich habe geschossen, obwohl ich erkannte, dass es ein Tox war, der da auf mich zukam. Und obendrein, wie ich nach dem Kampf feststellte, offenbar einer von Sandroses Verwandten, die mit dem Sklavenschiff entführt worden waren. Jetzt ist also klar, was mit ihnen passiert ist. Und auch wenn es kein Gedanke im Sinne des Einen ist: Wenigstens kann ich sicher sein, dass es die verdammten Sklavenhalter, die das Elend auf die Tox herabbeschworen haben, auch erwischt hat. Sie haben die Dämonen angelockt - sollen sie ewig verdammt sein! Habe ich ein schlechtes Gewissen? Ich weiß es nicht und das ist ungewöhnlich. Als ich mich dieser Wand von Feinden gegenüber gesehen habe, die nur aus Zähnen und Klauen bestand und mir ohne Wenn und Aber meine Eingeweide herausreißen wollte... Da ist klar, dass ich nichts anderes tun konnte, als mich zu verteidigen. Wer einmal so weit in den dämonischen Fängen ist, für die gibt's kein Zurück. Nein, ich glaube, ich habe kein schlechtes Gewissen. Ich bin nur wütend und traurig. Und ich möchte nicht, dass Sandrose erfährt, was ich gesehen habe. Soll sie lieber glauben, dass irgendwo im Universum ihre Familie lebt und die Hoffnung auf Rettung besteht!

An den Kampf selbst kann ich mich gar nicht genau erinnern. Da war erst mal dieses Tentakel-Ding, dass sich unsere Truppe schnappt und herumschleudert wie kaputte Puppen. Juro, der unter der Decke hängt und irgendwie immer noch versucht, die Leute zu koordinieren. Borgius, der wie ein Berserker mitten zwischen die Angreifer springt. Ich hab verucht, ihm den Rücken zu decken und einiges einstecken müssen von so einem Mutant, der plötzlich Knochen-Speere aus seinem Rücken sprießen ließ und in mich bohrte. Wir wären alle draufgegangen, trotz Cäsar, der ins Gewühl schoss, trotz der Tatsache, dass das Tentakel-Monster Kraft verlor... Aber dann ist - nach unserer Vermutung - Mbutu mit einem der Atomsprengköpfe auf den Schiffsfriedhof rübergesprungen und hat alles in die Luft gejagt und ein Loch in die seltsame Hautblase gerissen, in deren Schutz die Chaos-Mutanten angriffen. Gott, das ist genau sein Stil, wenn ich daran denke, wie er mal ein Stück lebendige Bordwand gespielt hat (Atomschlag)! Plötzlich saugte das Vakuum alle unsere Gegner davon. Und Ariane, deren Rüstung schon völlig zerstört war, hat sterbend das Kraftfeld aktiviert. Deshalb die "geringfügigen Schäden". Dieser verdammte Kapitän sollte weinend niederknien angesichts der Verluste dieser beiden Menschen! Und wo waren eigentlich Achmed und Ali? Was nutzen einem zwei Superkämpfer, die sich dann, wenn es drauf ankommt - und zwar gerade im Chaos! - ins Koma saufen? Armer Juro...


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