Die rotgelockte Muse: Unterschied zwischen den Versionen
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''Stanrick: "So alt bin ich nun auch wieder nicht!" ''<br> | ''Stanrick: "So alt bin ich nun auch wieder nicht!" ''<br> | ||
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'''Stanley Rickman:'''<br> | '''Stanley Rickman:'''<br> | ||
<br>Dieser Grünschnabel ist vorlaut, ungeduldig und hat keine Ahnung! Man sollte wirklich meinen, in einem Land, das in dem Ruf steht, die besten Liebhaber der Welt zu beherbergen, sollte ein junger Mann etwas mehr Respekt vor der holden Weiblichkeit gelernt haben - und Manieren im Umgang mit ihnen. Aber nein, Andrea nimmt sich diesen Schmierlappen von einem Lehrer zum Vorbild... Wer überprüft eigentlich die Qualifikation dieser sogenannten Lehrmeister auf diesem Stützpunkt? Darf einfach jeder, der mit ein bisschen Wind in der Gegend rumwedeln kann, unterrichten? Alles muss man selbst machen. Nur gut, dass ich darauf bestand, den Jungen unter meine Fittiche nehmen zu dürfen. <br> | <br>Dieser Grünschnabel ist vorlaut, ungeduldig und hat keine Ahnung! Man sollte wirklich meinen, in einem Land, das in dem Ruf steht, die besten Liebhaber der Welt zu beherbergen, sollte ein junger Mann etwas mehr Respekt vor der holden Weiblichkeit gelernt haben - und Manieren im Umgang mit ihnen. Aber nein, Andrea nimmt sich diesen Schmierlappen von einem Lehrer zum Vorbild... Wer überprüft eigentlich die Qualifikation dieser sogenannten Lehrmeister auf diesem Stützpunkt? Darf einfach jeder, der mit ein bisschen Wind in der Gegend rumwedeln kann, unterrichten? Alles muss man selbst machen. Nur gut, dass ich darauf bestand, den Jungen unter meine Fittiche nehmen zu dürfen. <br> | ||
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<br>Schließlich stand meine erste Lektion für Andrea an. Der Bengel versuchte, sich vor mir zu verstecken und krackelte an einem Liebesbrief. "Meine rotgelockte Muse" - er glaubte, das Mädchen mit solchen Allgemeinplätzen beeindrucken zu können, die allein verraten, dass er nichts im Mindesten über sie weiß und nur auf ihr hübsches Äußeres fixiert ist. Nicht mal ihren Namen wusste er! Aber er kann sich ja nicht einmal meinen Namen merken. Er hat es geschafft, meinen Vor- und Nachnamen zu "Stanrick" zu verhonepipeln. Mr. Rickman, heißt das! Keine Manieren! Nun, aber ich habe doch eine Schwäche für naive junge Verliebte, die noch keine Ahnung haben, wie sehr sie das Leben beuteln wird. Also beschloss ich, Andrea an meiner Erfahrung teilhaben zu lassen. Immerhin hat es meine geliebte Angela 40 Jahre mit mir ausgehalten, obwohl uns mein Beruf kaum Zeit für Zweisamkeiten ließ. Aber es ist die Frage, wie man diese gemeinsamen Minuten nutzt! <br> | <br>Schließlich stand meine erste Lektion für Andrea an. Der Bengel versuchte, sich vor mir zu verstecken und krackelte an einem Liebesbrief. "Meine rotgelockte Muse" - er glaubte, das Mädchen mit solchen Allgemeinplätzen beeindrucken zu können, die allein verraten, dass er nichts im Mindesten über sie weiß und nur auf ihr hübsches Äußeres fixiert ist. Nicht mal ihren Namen wusste er! Aber er kann sich ja nicht einmal meinen Namen merken. Er hat es geschafft, meinen Vor- und Nachnamen zu "Stanrick" zu verhonepipeln. Mr. Rickman, heißt das! Keine Manieren! Nun, aber ich habe doch eine Schwäche für naive junge Verliebte, die noch keine Ahnung haben, wie sehr sie das Leben beuteln wird. Also beschloss ich, Andrea an meiner Erfahrung teilhaben zu lassen. Immerhin hat es meine geliebte Angela 40 Jahre mit mir ausgehalten, obwohl uns mein Beruf kaum Zeit für Zweisamkeiten ließ. Aber es ist die Frage, wie man diese gemeinsamen Minuten nutzt! <br> | ||
<br>Natürlich mögen Frauen Komplimente. Auch über ihr Äußeres. Aber Andrea tut gut daran, etwas mehr Interesse daran zu zeigen, was im Innern dieses Mädchens passiert. Ich denke nämlich nicht, dass er so ein Typ ist, der mit einer Reihe von Eroberungen glücklich wird. Er sucht wirklich die wahre Liebe, God bless him! Also habe ich ihm eine Lektion erteilt, wie man durch geschicktes Befragen der richtigen Zeugen einige nützliche Informationen ermitteln kann: Andreas Angebetete heißt Celina, ist älter als er - nicht ideal, so unreif, wie der Junge ist - und ist die Tochter der Leiterin des Stützpunkts, die Dame mit dem racoon. Sie hat etwas später als Andrea ihre magische Fähigkeit entdeckt (ich bin übrigens offenbar einer der ältesten, bei dem diese Gottesgabe "ausgebrochen" ist). So viel ist schon mal klar: Andrea hat sich kein leichtes Ziel gesetzt. Nun versuchte ich ihm die Wichtigkeit des richtigen Timings zu vermitteln. Aber der Junge hat einfach keine Beherrschung! Ehe ich es mich versah, stürmte er zu dem Mädel hinüber mit einem lächerlich leicht zu durchschauenden Vorwand. Natürlich flog er gleich auf. Dass ihm das Mädchen nicht gleich einen endgültigen Korb gab, hat weniger mit Andreas Charme als mit ihrer Nachsicht zu tun. Nun, vielleicht ergibt sich auf der politischen Versammlung eine bessere Gelegenheit für Andrea - wenn er gefälligst auf Leute hört, die älter und weiser sind als er!<br> | <br>Natürlich mögen Frauen Komplimente. Auch über ihr Äußeres. Aber Andrea tut gut daran, etwas mehr Interesse daran zu zeigen, was im Innern dieses Mädchens passiert. Ich denke nämlich nicht, dass er so ein Typ ist, der mit einer Reihe von Eroberungen glücklich wird. Er sucht wirklich die wahre Liebe, God bless him! Also habe ich ihm eine Lektion erteilt, wie man durch geschicktes Befragen der richtigen Zeugen einige nützliche Informationen ermitteln kann: Andreas Angebetete heißt Celina, ist älter als er - nicht ideal, so unreif, wie der Junge ist - und ist die Tochter der Leiterin des Stützpunkts, die Dame mit dem racoon. Sie hat etwas später als Andrea ihre magische Fähigkeit entdeckt (ich bin übrigens offenbar einer der ältesten, bei dem diese Gottesgabe "ausgebrochen" ist). So viel ist schon mal klar: Andrea hat sich kein leichtes Ziel gesetzt. Nun versuchte ich ihm die Wichtigkeit des richtigen Timings zu vermitteln. Aber der Junge hat einfach keine Beherrschung! Ehe ich es mich versah, stürmte er zu dem Mädel hinüber mit einem lächerlich leicht zu durchschauenden Vorwand. Natürlich flog er gleich auf. Dass ihm das Mädchen nicht gleich einen endgültigen Korb gab, hat weniger mit Andreas Charme als mit ihrer Nachsicht zu tun. Nun, vielleicht ergibt sich auf der politischen Versammlung eine bessere Gelegenheit für Andrea - wenn er gefälligst auf Leute hört, die älter und weiser sind als er!<br> | ||
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+ | '''Andrea'''<br> | ||
+ | Liebes Tagebuch,<br> | ||
+ | seit fast einer Woche bin ich dem Bösen schon entkommen. Stanricks geplante Ich-bringe-dir-Manieren-bei-Lektionen haben bisher nicht in seinen Lernplan mit Norina gepasst. Und ausgerechnet heute musste doch noch die erste Stunde mit ihm fest eingeplant werden.<br> | ||
+ | Es ist nämlich so, dass ich gar keine Zeit für solche Sachen habe. Neben dem intensiven Training, beschäftigt mich, wie du aus meinem letzten Eintrag weißt, ein rothaariges Mädchen.<br> | ||
+ | Der Grund, warum ich dir die Tage über nicht geschrieben habe, ist der, dass ich immer nur an sie denken musste. Bisher konnte ich diese Schönheit noch nicht für mich gewinnen, aber genau deshalb beschloss ich, ihr einen romantischen Liebesbrief zu schreiben, ganz altmodisch auf Papier. <br> | ||
+ | Dafür setzte ich mich in eine der Nischen, die auf dem Gang zur Stützpunktbibliothek in den Wänden eingelassen sind. Neben der Eigenschaft, besonders gemütlich zu sein, haben diese Nischen auch noch einen anderen Vorteil: Man wird fast unsichtbar (und das ganz ohne Magie). Vor Stanrick war ich also im Zweifel auch noch eine Weile sicher. <br> | ||
+ | Du kannst dir ja denken, dass der alte Ami mich aber schon bald aufgespürt hatte, bzw. gab ich mich dann doch zu erkennen, nachdem er drei Mal an mir vorbeirannt war. Tragischerweise fiel mir dabei mein Papierstapel auf den Boden und mein unfertiger Brief segelte direkt vor Stanricks Füße. <br> | ||
+ | Der für meinen Geschmack viel zu neugierige und grimmige Opa hatte sofort etwas daran auszusetzen. „Du kannst sie doch nicht mit meine rotgelockte Muse ansprechen.“, meinte er.<br> | ||
+ | Ich finde diese Bezeichnung immer noch passend, egal was Stanrick oder irgendwer sonst sagt. Denn das Mädchen inspiriert mich, noch nie hab ich so viele neue Baupläne entworfen. Wie dem auch sei, Stanrick setzte sich in den Kopf, mir helfen zu müssen. Seine erste Lektion bestand also darin, mir zu zeigen, wie ich eine Frau besser kennenlernen kann. (Wusstest du, dass er 150 Jahre mit seiner eigenen Frau, Hildegard, verheiratet war? Das ist unglaublich!)<br> | ||
+ | Weil ich mein Mädchen oft in der Speisekammer sah, beschlossen wir, dorthin zu gehen, sie ein bisschen zu beobachten und herauszufinden, wie ihr richtiger Name war. Ja, ich gebe zu, das hätte ich schon längst erkunden sollen. Aber was ist schon ein realer Name, wenn man die rotgelockte Muse sein kann?<br> | ||
+ | Wir setzten uns also zu Paola Furiosa und aßen Spaghetti. Dabei musste ich extrem aufpassen, denn meine Muse redete tatsächlich mit einem anderen Kerl. Du weißt, ich wurde schon einmal von einer Angebeteten böse betrogen, die mir erst einen Kuss raubte und sich dann auf diesen Sunnyboy einließ statt auf mich. Und das obwohl ich mindestens genauso smart bin.<br> | ||
+ | Paola wusste tatsächlich, wer das Mädchen war und als ich es erfuhr, fiel ich aus allen Wolken. Sie ist die Tochter der Hausmeisterin! Und ihren Namen werde ich nun garantiert nicht mehr vergessen: Serena Tanqullita. <br> | ||
+ | Es gibt auch eine logische Erklärung dafür, warum wir sie vorher noch nicht gesehen haben. Ihre Eltern sind getrennt. Ihr Vater ist ein normaler Mensch, bei dem sie gewohnt hat, bis sie ihre eigenen Hexenmeisterfähigkeiten entdeckte. Meine Muse ist genau wie ihre Mutter eine Erdbändigerin. Im Moment ist sie noch im Anfängerkurs, aber bei solch guten Genen wird es bestimmt nicht lang dauern, bis sie aufsteigt.<br> | ||
+ | Jedenfalls konnte ich mich ihrem Bann bald darauf nicht mehr entziehen, vor allem nachdem der Typ, der neben ihr gesessen hatte, aufstand und sie ihm zum Abschied kaum eines Blickes würdigte. Stanrick hatte mir geraten, mich bei der Vollversammlung der italienischen Hexenmeister zu ihr zu setzen, um mit ihr über die dort angesprochenen Themen zu sprechen. Aber bis nächsten Dienstag konnte ich unmöglich warten.<br> | ||
+ | Ich stand also auf und ging zu ihr. Vielleicht überrascht es dich schon gar nicht mehr, aber als ich dann bei ihr war, redete ich nur Unsinn. Erst wollte ich ihr weißmachen, dass ich eine Umfrage über Spaghettisoßen machen würde. Das hat sie mir selbstverständlich nicht abgekauft. Also hab ich es als nächstes mit der Wahrheit versucht und ihr gestanden, dass ich so toll finde und leider auch, dass sie meine rotgelockte Muse ist. (Ich verstehe wirklich nicht, warum dieser Name so schlecht ankommt.)<br> | ||
+ | Na ja, die Ehrlichkeit schien ihr zumindest besser zu gefallen als meine, von Rafael gelernten, Anmachsprüche. Ich fragte sie sogar nach ihrem Buch, was sie las. Und als ich erfuhr, dass es von Hildegard von Bingen geschrieben worden war, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich beschloss, diese Klosterfrau zu unserem nächsten Gesprächsthema werden zu lassen. Am Wochenende würde ich recherchieren und mein Bruder Franco, der sowieso immer in der Unibibliothek hängt, konnte mir sicher dabei helfen. <br> | ||
+ | Ich muss aber zugeben, dass auch Stanrick heute ganz nett zu mir war. Als ich dann wieder von Serenas Seite wich, und ich gebe zu, ich war etwas wacklig auf den Beinen, spendierte er mir tatsächlich einen Nachtisch und sprach mir Mut zu.<br> | ||
+ | Bis demnächst!<br> | ||
+ | Dein Andrea<br> | ||
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'''Norina:'''<br> | '''Norina:'''<br> |
Version vom 08:46, 10. Feb 2015
Stanrick: "Glaub einem, der 40 Jahre mit der besten Frau der Welt verheiratet war."
Andrea: "Hildegard von Bingen?"
Stanrick: "So alt bin ich nun auch wieder nicht!"
Freitag, 27.08.2114
Stanley Rickman:
Dieser Grünschnabel ist vorlaut, ungeduldig und hat keine Ahnung! Man sollte wirklich meinen, in einem Land, das in dem Ruf steht, die besten Liebhaber der Welt zu beherbergen, sollte ein junger Mann etwas mehr Respekt vor der holden Weiblichkeit gelernt haben - und Manieren im Umgang mit ihnen. Aber nein, Andrea nimmt sich diesen Schmierlappen von einem Lehrer zum Vorbild... Wer überprüft eigentlich die Qualifikation dieser sogenannten Lehrmeister auf diesem Stützpunkt? Darf einfach jeder, der mit ein bisschen Wind in der Gegend rumwedeln kann, unterrichten? Alles muss man selbst machen. Nur gut, dass ich darauf bestand, den Jungen unter meine Fittiche nehmen zu dürfen.
Meine eigene Ausbildung macht offenbar ganz gute Fortschritte. Mit der Feuermagie ist es wie mit jeder Waffe - es kommt auf Fingerspitzengefühl an. Nach einer Woche ist es mir gelungen, eine Kerze kontrolliert anzuzünden, ohne sie gleich komplett niederzubrennen - oder den Tisch dazu. Meine junge Lehrerin hat ein gutes Händchen, das muss ich zugeben. Und es beruhigt zu wissen, dass jemand mit Wasserkraft neben mir steht, damit kein Unglück passiert. Safty first! Das sollten sie gerade hier berücksichtigen, wo so viele junge, unbeherrschte Menschen zusammenkommen! Und der Feind offenbar direkt vor der Haustür sitzt. Typisch für diese verbohrten Papisten, die Hexenmeister zu verteufeln, nur weil sie nicht in ihr beschränktes Weltbild passen. Wer schon meint, man bräuchte einen Stellvertreter Gottes auf Erden, wo doch jeder Gläubige die Stimme des Herren hören kann, wenn er nur will! Unnatürlich, sowas! Nun, ich werde die Geheimhaltung wahren, das ist Ehrensache!
Schließlich stand meine erste Lektion für Andrea an. Der Bengel versuchte, sich vor mir zu verstecken und krackelte an einem Liebesbrief. "Meine rotgelockte Muse" - er glaubte, das Mädchen mit solchen Allgemeinplätzen beeindrucken zu können, die allein verraten, dass er nichts im Mindesten über sie weiß und nur auf ihr hübsches Äußeres fixiert ist. Nicht mal ihren Namen wusste er! Aber er kann sich ja nicht einmal meinen Namen merken. Er hat es geschafft, meinen Vor- und Nachnamen zu "Stanrick" zu verhonepipeln. Mr. Rickman, heißt das! Keine Manieren! Nun, aber ich habe doch eine Schwäche für naive junge Verliebte, die noch keine Ahnung haben, wie sehr sie das Leben beuteln wird. Also beschloss ich, Andrea an meiner Erfahrung teilhaben zu lassen. Immerhin hat es meine geliebte Angela 40 Jahre mit mir ausgehalten, obwohl uns mein Beruf kaum Zeit für Zweisamkeiten ließ. Aber es ist die Frage, wie man diese gemeinsamen Minuten nutzt!
Natürlich mögen Frauen Komplimente. Auch über ihr Äußeres. Aber Andrea tut gut daran, etwas mehr Interesse daran zu zeigen, was im Innern dieses Mädchens passiert. Ich denke nämlich nicht, dass er so ein Typ ist, der mit einer Reihe von Eroberungen glücklich wird. Er sucht wirklich die wahre Liebe, God bless him! Also habe ich ihm eine Lektion erteilt, wie man durch geschicktes Befragen der richtigen Zeugen einige nützliche Informationen ermitteln kann: Andreas Angebetete heißt Celina, ist älter als er - nicht ideal, so unreif, wie der Junge ist - und ist die Tochter der Leiterin des Stützpunkts, die Dame mit dem racoon. Sie hat etwas später als Andrea ihre magische Fähigkeit entdeckt (ich bin übrigens offenbar einer der ältesten, bei dem diese Gottesgabe "ausgebrochen" ist). So viel ist schon mal klar: Andrea hat sich kein leichtes Ziel gesetzt. Nun versuchte ich ihm die Wichtigkeit des richtigen Timings zu vermitteln. Aber der Junge hat einfach keine Beherrschung! Ehe ich es mich versah, stürmte er zu dem Mädel hinüber mit einem lächerlich leicht zu durchschauenden Vorwand. Natürlich flog er gleich auf. Dass ihm das Mädchen nicht gleich einen endgültigen Korb gab, hat weniger mit Andreas Charme als mit ihrer Nachsicht zu tun. Nun, vielleicht ergibt sich auf der politischen Versammlung eine bessere Gelegenheit für Andrea - wenn er gefälligst auf Leute hört, die älter und weiser sind als er!
Andrea
Liebes Tagebuch,
seit fast einer Woche bin ich dem Bösen schon entkommen. Stanricks geplante Ich-bringe-dir-Manieren-bei-Lektionen haben bisher nicht in seinen Lernplan mit Norina gepasst. Und ausgerechnet heute musste doch noch die erste Stunde mit ihm fest eingeplant werden.
Es ist nämlich so, dass ich gar keine Zeit für solche Sachen habe. Neben dem intensiven Training, beschäftigt mich, wie du aus meinem letzten Eintrag weißt, ein rothaariges Mädchen.
Der Grund, warum ich dir die Tage über nicht geschrieben habe, ist der, dass ich immer nur an sie denken musste. Bisher konnte ich diese Schönheit noch nicht für mich gewinnen, aber genau deshalb beschloss ich, ihr einen romantischen Liebesbrief zu schreiben, ganz altmodisch auf Papier.
Dafür setzte ich mich in eine der Nischen, die auf dem Gang zur Stützpunktbibliothek in den Wänden eingelassen sind. Neben der Eigenschaft, besonders gemütlich zu sein, haben diese Nischen auch noch einen anderen Vorteil: Man wird fast unsichtbar (und das ganz ohne Magie). Vor Stanrick war ich also im Zweifel auch noch eine Weile sicher.
Du kannst dir ja denken, dass der alte Ami mich aber schon bald aufgespürt hatte, bzw. gab ich mich dann doch zu erkennen, nachdem er drei Mal an mir vorbeirannt war. Tragischerweise fiel mir dabei mein Papierstapel auf den Boden und mein unfertiger Brief segelte direkt vor Stanricks Füße.
Der für meinen Geschmack viel zu neugierige und grimmige Opa hatte sofort etwas daran auszusetzen. „Du kannst sie doch nicht mit meine rotgelockte Muse ansprechen.“, meinte er.
Ich finde diese Bezeichnung immer noch passend, egal was Stanrick oder irgendwer sonst sagt. Denn das Mädchen inspiriert mich, noch nie hab ich so viele neue Baupläne entworfen. Wie dem auch sei, Stanrick setzte sich in den Kopf, mir helfen zu müssen. Seine erste Lektion bestand also darin, mir zu zeigen, wie ich eine Frau besser kennenlernen kann. (Wusstest du, dass er 150 Jahre mit seiner eigenen Frau, Hildegard, verheiratet war? Das ist unglaublich!)
Weil ich mein Mädchen oft in der Speisekammer sah, beschlossen wir, dorthin zu gehen, sie ein bisschen zu beobachten und herauszufinden, wie ihr richtiger Name war. Ja, ich gebe zu, das hätte ich schon längst erkunden sollen. Aber was ist schon ein realer Name, wenn man die rotgelockte Muse sein kann?
Wir setzten uns also zu Paola Furiosa und aßen Spaghetti. Dabei musste ich extrem aufpassen, denn meine Muse redete tatsächlich mit einem anderen Kerl. Du weißt, ich wurde schon einmal von einer Angebeteten böse betrogen, die mir erst einen Kuss raubte und sich dann auf diesen Sunnyboy einließ statt auf mich. Und das obwohl ich mindestens genauso smart bin.
Paola wusste tatsächlich, wer das Mädchen war und als ich es erfuhr, fiel ich aus allen Wolken. Sie ist die Tochter der Hausmeisterin! Und ihren Namen werde ich nun garantiert nicht mehr vergessen: Serena Tanqullita.
Es gibt auch eine logische Erklärung dafür, warum wir sie vorher noch nicht gesehen haben. Ihre Eltern sind getrennt. Ihr Vater ist ein normaler Mensch, bei dem sie gewohnt hat, bis sie ihre eigenen Hexenmeisterfähigkeiten entdeckte. Meine Muse ist genau wie ihre Mutter eine Erdbändigerin. Im Moment ist sie noch im Anfängerkurs, aber bei solch guten Genen wird es bestimmt nicht lang dauern, bis sie aufsteigt.
Jedenfalls konnte ich mich ihrem Bann bald darauf nicht mehr entziehen, vor allem nachdem der Typ, der neben ihr gesessen hatte, aufstand und sie ihm zum Abschied kaum eines Blickes würdigte. Stanrick hatte mir geraten, mich bei der Vollversammlung der italienischen Hexenmeister zu ihr zu setzen, um mit ihr über die dort angesprochenen Themen zu sprechen. Aber bis nächsten Dienstag konnte ich unmöglich warten.
Ich stand also auf und ging zu ihr. Vielleicht überrascht es dich schon gar nicht mehr, aber als ich dann bei ihr war, redete ich nur Unsinn. Erst wollte ich ihr weißmachen, dass ich eine Umfrage über Spaghettisoßen machen würde. Das hat sie mir selbstverständlich nicht abgekauft. Also hab ich es als nächstes mit der Wahrheit versucht und ihr gestanden, dass ich so toll finde und leider auch, dass sie meine rotgelockte Muse ist. (Ich verstehe wirklich nicht, warum dieser Name so schlecht ankommt.)
Na ja, die Ehrlichkeit schien ihr zumindest besser zu gefallen als meine, von Rafael gelernten, Anmachsprüche. Ich fragte sie sogar nach ihrem Buch, was sie las. Und als ich erfuhr, dass es von Hildegard von Bingen geschrieben worden war, wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich beschloss, diese Klosterfrau zu unserem nächsten Gesprächsthema werden zu lassen. Am Wochenende würde ich recherchieren und mein Bruder Franco, der sowieso immer in der Unibibliothek hängt, konnte mir sicher dabei helfen.
Ich muss aber zugeben, dass auch Stanrick heute ganz nett zu mir war. Als ich dann wieder von Serenas Seite wich, und ich gebe zu, ich war etwas wacklig auf den Beinen, spendierte er mir tatsächlich einen Nachtisch und sprach mir Mut zu.
Bis demnächst!
Dein Andrea
Norina:
Ich hatte ja damit gerechnet, dass Vincenzo das Thema Rückkehr auf den Stützpunkt anschneiden wird, seit ich Mister Rickman unterrichte. Aber dass er mich so hart angreift, das hätte ich nie erwartet. Wie kann er mir das antun? Was bildet er sich ein? Mir vorzuwerfen, ich rede den Leuten nur nach dem Mund, dass ich mit dran Schuld bin, was Mariella und den anderen passiert ist! Dass ich zu schnell aufgegeben habe und es dieser verdammten Hausmeisterin recht machen wollte. So ein Arschloch!
Vincenzo ist also auch nur ein Hexenmeister wie alle anderen. So arrogant! Was soll das heißen, ich verschwende mein Talent. Ich bin gerne unter "normalen" Menschen. Mein Eis bringt ein Stück Freude auf diese Welt, die wir alle so vermurkst haben. Das Geschenk der Kühle in diesem unendlichen heißen Sommer. Was, bitte schön, machen denn die tollen Hexenmeister? Mein Beitrag mag klein sein, aber nützlich. Ich liebe meinen Beruf und ich liebe meine Kunden. Und da redet mir keiner rein. Ich habe Donna Tranquillita damals deutlich gesagt, dass die Seniorengruppe noch nicht so weit ist, um diesen Auftrag zu übernehmen. Es vielleicht nie sein wird. Aber: "Niemand wird eine Gruppe Rentner verdächtigen, harmlose Touristen. Sie werden sicherer sein als alle anderen." Ja, so sieht's aus! Mariella ist an einem Herzinfarkt gestorben und die anderen verrotten in einem chinesischen Gefängnis! Sie sollten zu Hause sein und mit ihren Enkeln spielen!
Nein, so lange diese Tussi Leute zu solchen Aufträgen schickt, werde ich nicht an den Stützpunkt zurückkehren. Da kann Vincenzo tausend Schnecken in Marios Garten aussetzen, um ihm zu zeigen, wie überfordert er mit allem ist. Ich drücke mich vor Verantwortung? Was ist mit der Verantwortung der Hexenmeister gegenüber ihren Mitmenschen? Sobald Mister Rickman seine Kräfte im Griff hat, wird mich niemand mehr aus meinem Eiswagen herauskriegen. Und außer Andrea kommt mir auch niemand hinein. So!
Ich wollte ja auch nur den Jungen ein wenig beschützen, als ich ihm und Mister Rickman auf ihrer ersten "Manierenstunde" in die Speisekammer gefolgt bin. Notfalls eingreifen und den Ami ablenken, damit Andrea flüchten kann. Aber eigentlich sah es nicht so aus, als würde er Andrea schrecklich quälen. Und dann lauerte mir Vincenzo auf ...
Er kennt mich doch kaum, wie kann er mich so durchschauen? So zielsicher in die Wunde stochern? Natürlich habe ich Angst. Aber vor etwas anderem, als er denkt. Natürlich können wir mit unseren Kräften Gutes tun. Aber wenn mich die Menschen dann wieder so ansehen wie Babbo damals? Gott, wie ich Vincenzo hasse! Wie ich mich selbst hasse! Ja, ich hätte drauf bestehen sollen. Ich bin die Expertin, mein Wort zählt und wenn mir Tranquillita nicht vertraut, meinem Urteil nicht vertraut, dann hätte ich gehen sollen. Das hätte ich tun müssen, ein Ultimatum stellen. Stattdessen bin ich gegangen, als es zu spät war. Wie ein beleidigtes Kind. Hat sich die Hausmeisterin wirlich geändert? Können sich die Hexenmeister verändern? Wenn es mehr gäbe wie Vincenzo, vielleicht. Verdammter Kerl!
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