Die Wanderung: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 10. September 2015, 15:36 Uhr

Donnerstag, 16.09.2114

Rafael
Liebe Valerie,
heute ist mir der Kragen geplatzt. Es gibt nicht viele Situationen, in denen das passiert, aber nachdem kürzlich Vince sauer war, war ich nun an der Reihe. Unser Urlaub am Meer sollte mit einer netten Wanderung durch ein Naturschutzgebiet für unser aller Entspannung sorgen. Anfangs lief alles ganz gut. Ich habe die Senfsamenkornsandalen angezogen. Und schon ging es los: Über Stock und Stein, durch Kraut und Rüben, zwischen Kiefern hindurch und an bockigen Ziegen vorbei.
Andrea trug die falschen Schuhe. Außerdem sprach er die falschen Themen an und die bissige Paola tat ihr Übriges. Es ging wie immer um die Liebe. Andrea merkt gar nicht, von wie viel Liebe er in seinem Elternhaus umgeben ist. Jedenfalls sollten nun alle von ihrer großen Liebe erzählen. Stanrick berichtete von seiner Frau, Paola von einem Kasper namens Sören und ich, ich bekam keine Chance, denn natürlich glaubten alle, und besonders Paola, dass ein Macho wie ich angeblich einer bin, noch nie auch nur ein Fünkchen Liebe empfunden hätte. Wie sie sich damit irrt...
Gefallen lassen habe ich mir das nicht und als ich davongestampft bin, was ist mir da aus der Hosentasche gefallen? Ja, richtig, dein Foto! Jetzt haben sie es gesehen.
Auf der Wanderung waren zum Glück nur Stanrick, Andrea und Fräulein Alle-Männer-sind-Schweine dabei. Möchte nicht wissen, wie Vince und Norina mich ausgequetscht hätten. Hoffentlich hält Andrea dicht.
Jedenfalls hab ich mich dann mit Paola in die Haare bekommen. Sie hat mir zwar vorgegaukelt, dass sie sich entschuldigen wollte, aber in meinen Ohren klang jedes Wort wie eine Beleidigung. Aus Wut habe ich es ihr dann an den Kopf geknallt: Das auf dem Foto ist meine tote Schwester!
Ach, Valerie, warum? Viel lieber hätte ich dein Bild stolz gezeigt und erzählt, was für ein toller Mensch du bist und wie viel Liebe in unserer Familie steckt. Ich würde gern von Treffen mit dir berichten, von deiner Arbeit in der Sternenwarte, vom Kontakt mit den Aliens. Alles, nur nicht, dass du gestorben bist.
Als der Höhepunkt meiner Wut erreicht war, hat es Paola umgehauen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie stolperte auf dem kargen Pfad und rutschte ungebremst im Schutt den Abhang hinunter.
Ich hab sie gerettet. Zwar nicht ohne selbst auszurutschen, aber Luftmagie ist etwas Feines, wenn man glaubt, zu fallen. Sie lebt und ich lebe. Wir hielten uns in den Armen.
Trotzdem war ich wie benebelt. Normalerweise erwähne ich dich nicht. Aber auch wenn ich merke, wie meine Fassade heute mit mir diesen Abhang runterrutschte und brökelte: Es hat Paola einmal von ihren bösen Kommentaren abgebracht. Und es hat ihr gefallen, als ich sie festhielt. Ich weiß doch, wie Frauenkörper sich anfühlen, wenn ihnen etwas gefällt.
In echter Liebe
dein Rafael



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