Die Roland-Chroniken VI: Versuchung und Fall: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 18:17, 14. Dez 2012

„...unterschrieben von Käptn Agnes Beagle“, sagte Kallyria.
Roland hatte das Gefühl, in seiner Rüstung zu ersticken. Er sprang auf, wollte laufen, aber wohin? Zwei Schritte nach links, zwei nach rechts. Er ballte die gepanzerten Fäuste. Begann, auf die Kabinenwand einzuschlagen und zu treten. Ein Schrei baute sich in seinem Innern auf, er biss die Zähne zusammen, um ihn nicht herauszulassen.
„Alles in Ordnung, Sir?“, kam die zögernde Stimme eines Sicherheitspostens über den Kopfhörer.
Roland drehte sich nicht um, um in den Lauf seiner Laserwaffe zu blicken. „Ich bring sie um“, stieß er hervor. „Oh, ich bring sie um.“
„Ja, Sir, wir bringen sie alle um“, bestätigte der Posten. „Verdammte Brahim.“
Einen Augenblick lang stellte sich Roland vor, wie Juros Leute das Feuer auf Agnes eröffneten, wie ihr Körper zuckte. Seine Arme schmerzten trotz Dämpfer, aber die Delle in der Wand gab ihm keine Befriedigung. Diese Frau! Diese... Wissenschaftler! ‘‘Ich wünschte... ich wünschte...‘‘
„Dein Wunsch ist mir Befehl“, sagte eine Stimme. Sie schien über das Intercom zu kommen, aber Roland wusste, dass der Ursprung da draußen im wimmelnden Chaos lag. „Bist du diesmal bereit, meine Hilfe anzunehmen?“
Roland sah zu Juro hinüber, doch der hatte sich wieder der Spinnenreiterin zugewandt. Auch die Wachposten konzentrierten sich wieder auf den Gang und was von dort hereinkommen mochte, nachdem Leutnant Beagle sich offenbar beruhigt hatte. Der Tox lag da wie ein frisch überfahrener Kadaver am Straßenrand, feuchtes Fell, Facettenaugen – Facettenaugen! Verfluchte Scheiße!
Roland schaltete sein Mikro auf stumm. „Keine Gegenleistung?“ knurrte er in seinen Helm hinein.
„Das hab ich nie verlangt.“ Die Stimme des Dämons klang beleidigt. „Wenn du schon früher auf mich gehört hättest...“
„Halt die Klappe und tu was“, zischte Roland.
„Aber gerne doch, Meister.“
Roland wurde schwarz vor Augen.

„Keine Bewegung! Wer sind Sie? Keine Bewegung!“
Die panische Stimme drang gedämpft an Rolands Ohren. Alles drehte sich, deshalb brauchte er eine Weile um zu erkennen, dass er immer noch aufrecht stand. Seine Rüstung fühlte sich an, als hätte er eine Mülltonne als Panzer angelegt.
„Raus aus der Rüstung!“ Eine andere Stimme. Ruhig und entschlossen. Eine Offiziersstimme. „Keine Tricks, immer die Hände schön da lassen, wo ich sie sehen kann.“
Endlich gelang es Roland, seine Augen dazu zu bringen, die Umgebung scharf zu stellen. Er stand im Gang eines Raumschiffes, nicht das neuste, so wie die Wände aussahen. Ein zusammengewürfelter Trupp Bewaffneter hatte sich vor ihm in zwei Reihen aufgebaut, die Schusswaffen im Anschlag. Gerade trat ein Mann hinzu, dessen leichte Rüstung ein wenig moderner aussah als der Rest. Er war es, der über den Lautsprecher sprach. „Hast du nicht gehört? Ich sagte: Aussteigen!“
Roland hob die Arme über den Kopf. Sie waren ungewöhnlich schwer. Das Visier blieb leer, nirgendwo blinkte auch nur ein Notlämpchen. „Ich kann nicht, Sir“, sagte er laut. „Sieht so aus, als wär der Rüstungscomputer hinüber.“ Er überlegte, ob er seine Waffen vom Gürtel ab klinken und auf den Boden werfen sollte. Doch die Jungs ruckten unruhig hin und her, sicher hatten sie nervöse Abzugsfinger. Roland verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Hier an der linken Seite ist der Notausstiegsknopf“, sagte er. „Ich wäre froh, wenn ihn jemand drücken könnte, Sir.“
Auf einen Wink des Truppenführers hin nährte sich ein Gerüsteter Roland von links, die Waffe weiter auf seine Brust gerichtet. „Ganz ruhig“, sagte eine weibliche Stimme und Roland konnte hinter dem Visier weiche Züge erkennen, die vollen Lippen in Konzentration zusammengekniffen. Als müsste sie eine Bombe entschärfen, streckte die Frau langsam die Hand aus und berührte Rolands Rüstung. „Ein Stück höher, Sir, da, wo der Arm ansetzt“, sagte er. Sie fixierte ihn mit ihren Augen, während sie nach dem Knopf tastete. „Jeder Angriff lässt sich Sekundenbruchteile vorher in den Augen des Gegners ablesen.“ Hatte Erwin das gesagt? „Zumindest bei den meisten Menschen.“
Die Druckluft zischte, die Rüstung fiel von ihm ab wie eine alte Krebsschale. Im nächsten Moment lag Roland auf der Erde, die Wange an den kalten Boden gepresst, seine Arme wurden schmerzhaft nach hinten gedreht und in Handschellen gelegt. Die Frau presste etwas in seinen Nacken, wahrscheinlich der Lauf ihres Lasers. In dieser Position fiel es Roland nicht schwer, ausreichend verängstigt und eingeschüchtert zu klingen, selbst wenn er kein guter Schauspieler war. „Entschuldigen Sie bitte, Sir“, nuschelte er. „Wer sind Sie? Wo bin ich? Ich war gerade auf Patrouille, als einfach...“
Schritte neben seinem Kopf. „Bleib einfach ganz ruhig liegen, Großer“, sagte der Offizier. „Ah, Schwester. Hierher bitte.“
Ein zweites paar Füße erschienen in Rolands Gesichtsfeld. Sie steckten in halboffenen Schlappen und verschwanden fast unter einer wallenden orangefarbenen Robe.
„Der Kerl ist aus dem Nichts hier im Gang aufgetaucht, genau vor einer Patrouille. Stand einfach nur rum und schwankte. Ein blinder Passagier ist das nicht, nicht mit dieser Rüstung, diesen Waffen. Kann er von...“, der Truppführer senkte unwillkürlich die Stimme, „draußen gekommen sein?“
Die Robe sagte nichts, sie beugte sich über ihn, offenbar inspizierte sie seine Handgelenkschoner. Dann tastete sie kurz seinen Körper ab, während der Sicherheitsposten den Druck des Waffenlaufs verstärkte, um ihn daran zu erinnern, keine Dummheiten zu machen. Ein Glück, dass Emanuelle mein Mutanten-Schwänzchen wegoperiert hat, dachte Roland. Er versuchte zu ergründen, ob er sich irgendwie anders fühlte, ihm Knochenplatten an den Händen sprossen – aber da war nichts. „Schwester, ist alles in Ordnung mit mir?“, fragte er.
„Ruhig, Großer“, wiederholte der Offizier.
Die Schwester schwieg und wandte sich Rolands Rüstung zu, er konnte sie die Einzelteile umdrehen hören. „Die Schutzzeichen sind ungebrochen“, sagte sie. Ihre Stimme war so tief, dass Roland sie für die eines Mannes hätte halten können. „Ich werde ihn exorzieren, dann können Sie ihn zum Verhör in die Arrestzelle führen.“ Sie stimmte eine monotone Gebetslitanei an. Bei Zaishen hatte der Exorzismus immer inbrünstiger geklungen. Fast hätte Roland gelächelt. Ich hatte ja schon genug davon hinter mir. Ihn schauderte. Und das aus gutem Grund.
Als die Schwester das Weihwasser über ihm ausgoss, hielt Roland für einen Moment selbst den Atem an. Nichts zischte, nichts rauchte, nichts brannte – nur sein Overall klebte ihm unangenehm kühl am Rücken.
Die Schwester hielt offenbar nicht viel von aufmunternden Worten. „Das wär’s“, sagte sie nur. Zwei Gerüstete stellten Roland auf die Füße, jedoch ohne seine Fesseln zu lösen. Er überragte jeden einzelnen von ihnen.
Roland sah gerade noch, wie die schlaksige Gestalt in Orange um die nächste Biegung verschwand, ihr dicker grauer Zopf peitschte auf ihrem Rücken hin und her. „Heißt das, alles ist in Ordnung, Sir?“, fragte er den Offizier, der sein Visier geöffnet hatte und ein Gesicht mit Knubbelnase und Lachfalten zeigte.
Der zuckte offenbar die Achseln, auch wenn das in seiner Rüstung nicht genau zu erkennen war. „Es ist ein Anfang. Und wenn du nicht auf die Idee kommst, uns anzulügen, können wir noch echte Freunde werden.“ Er winkte seinen Männern und ging voraus. „Wie heißt du, Großer?“
Roland stolperte kurz, bevor er den Schritt seinen beiden Bodyguards angepasst hatte. „Hassan Falkoni, Sir, zu Diensten.“

Roland saß auf der Pritsche, die Beine angezogen, die Arme verschränkt. Die Arrestzelle erinnerte ihn an die Krautfass, aus einem Container improvisiert. Er achtete darauf, dass sein Gesicht in der Kamera zu sehen war und nichts von dem Gefühlssturm zeigte, der in seinem Innern tobte.
Vor etwa achtzehneinhalb Stunden war er auf dem Schiff erschienen und hatte nun zum ersten Mal etwas Zeit für sich. Verhör, medizinische Untersuchung, wieder Verhör, Kaffee, Messe, Beichte, Trickfragen von den Posten, die ihn in die Kirche begleitet hatten... Rolands Augen brannten vor Müdigkeit, aber sein Körper weigerte sich, zur Ruhe zu kommen.
Die Kapitänin, der Sicherheitschef, selbst die Priesterin schienen ihm schließlich seine simple Geschichte geglaubt zu haben: Hassan, Sohn eines Bauern, der sich mit seiner Familie auf Surel II der Kolumbus-Expedition angeschlossen und die Möglichkeit genutzt hatte, bei der Miliz einen neuen Lebensweg einzuschlagen. Auf dem langen Weg in eine unbevölkerte Galaxie hatte er die Grundlagen der Kommandostruktur und des Schießens gelernt. Als er sich auf der hoffentlich letzten Etappe durch Chaos gerade auf Patrouillengang befand, war ihm plötzlich schwarz vor Augen geworden. Abrakadabra und er war hier. Jeder kannte Geschichten von Dingen und Gegenständen, die im Chaos plötzlich verschwanden und woanders wieder auftauchten. Auch wenn sich niemand daran erinnern konnte, dass jemand auf diese Weise schon mal auf ein anderes Schiff umgestiegen war. Doch der junge Mann hatte keine Mutationen, sein Geist schien klar – auch wenn er offensichtlich ein wenig beschränkt war –, er erwies sich als ausreichend guter Kenner der Kirchenlehre und zeigte sich aufrichtig verwirrt und schockiert ob seines Schicksals.
Letzteres vorzuspielen, kostete Roland wenig Mühe. Nun saß er da und wartete auf das Unvermeidliche: auf die Stimme einer gekutteten Gestalt, die ihm die Rechnung für seine Dummheit präsentieren würde. Dass der Dämon eine so große Macht besaß, ihn von dem gestrandeten imperialen Frachter zu pflücken wie einen Apfel, ließ Roland schaudern. Tja, da hatte sich die gute Schwester Zaishen gewaltig geirrt. Das war mehr als die bloße Manifestation von Rolands größten Ängsten. Oder ist das Ganze nur wieder ein Trick? Wie der Wasserfall, die Wüste, der Tox-Opferaltar? Und in Wirklichkeit bin ich noch irgendwo an Bord? Das war ein netter Strohhalm, doch tief in seinem Innern wusste Roland, dass es genauso war, wie es aussah: Der Dämon hatte gewartet, bis der Apfel reif genug war, dass ein leichter Stups genügte und er ihm in die Hand fiel. Er musste mich gar nicht korrumpieren, dachte Roland. Es war meine eigene Entscheidung – und das ist das Schlimmste daran. Eins war klar: Mit seinem Temperament war Roland eine Gefahr für alle in seiner Umgebung. Der Dämon hatte ihn als tickende Zeitbombe auf irgendein Schiff platziert, und wenn er sich weiterhin als so erstaunlich un-chaotischer Meister der Planung erwies wie bisher, konnte sich Roland denken, was das Ziel dieses kleinen Frachters war. Auch wenn ihm bisher keiner auf diese Frage geantwortet hatte. Ich habe alle im Stich gelassen. Ramona, Juro, meine Leute. Vielleicht habe ich es verdient, als Dämonenpaktierer hingerichtet zu werden. Dann ist es endlich zu Ende.
Aber der nächste, der die Zelle betrat, war nicht der Dämon. Es war Sicherheitschef Csevi. Er trug noch immer Rüstung, hatte aber den Helm ins Rückenteil zurück gefahren. Er lächelte, als er Roland zum Habacht aufspringen sah. „Setz dich, Falkoni, und lass einem alten Mann eine Ecke frei.“ Die Pritsche knirschte, als sich der Gerüstete am Fußende niederließ. Roland war sich sicher, wenn sie nicht im Chaos gewesen wären, hätte sich der Mann jetzt eine Zigarette angezündet.
Sie schwiegen eine Weile. Roland versuchte, aus der Miene seines Gegenübers seine Chancen abzulesen. Aber die Freundlichkeit des Offiziers war wie eine Maske. „So“, sagte Csevi schließlich. „Sieht aus, als hättest du verdammtes Glück gehabt. Ein Trip mit dem dämonischen Reisebüro... Ja, ich weiß“, er hob die Hand, um Rolands Erwiderung zuvorzukommen, „du hast die Reise weder bestellt noch bezahlt. Der Arzt sagt, du bist sauber, und vor allem sagt Schwester Jessum, du bist sauber.“
„Wirklich, Sir? Da bin ich echt froh“, sagte Roland. Wenn es nur so wäre. „Allerdings ist dein PDA total im Eimer, antiquiertes Teil, das. Deine Identifikation ist komplett gelöscht. Die Rüstung, die du anhattest, kriegen die Techniker wieder hin, aber alles, was da gespeichert gewesen sein mag, ist ebenfalls weg.“ Csevi warf Roland einen scharfen Blick zu. „Als ob jemand alle Spuren verwischen wollte, wer du wirklich bist.“
Roland starrte ihm in die Augen. Du bist nicht der härteste Hund, dem ich je begegnet bin, der Eine ist mein Zeuge. „Sir?“
Csevi klopfte ihm auf den Oberarm. „Nichts, Großer, ist schon gut.“ Er stand auf. „Komm, wir schauen mal, ob wir nicht ein bequemeres Quartier für dich finden. So der Eine will, dauert es noch drei Wochen, bis wir an unserem Ziel ankommen. Bis dahin schauen wir mal, was du kannst und was wir mit dir machen.“
Roland stand ebenfalls auf. „Danke, Sir“, sagte er. „Aber Sir... was ist denn unser Ziel?“
„Oh, so ein kleiner Planet am Arsch des Universums“, sagte Csevi. „Hat nicht mal einen richtigen Namen, heißt nur XW 00534. Die meisten Leute nennen ihn aber...“
Csevi wandte ihm den Rücken zu und sah deshalb nicht, dass Roland kurz die Augen schloss. Hinterwald. Was sonst?

„Wir liegen hier eine gute Woche“, sagte Csevi, als er sich am Dock per Handschlag von Roland verabschiedete. „Wenn du es dir noch anders überlegst, kannst du gern mit uns weiterreisen. So ein Kaff ist doch nichts für einen jungen Mann wie dich, Hassan. Überleg’s dir, sonst sitzt du mindestens ein halbes Jahr lang hier fest.“
„Danke, Sir“, sagte Roland. Sein Lächeln war zu fast drei Viertel ehrlich. „Aber ich hab erst mal genug von Chaosreisen.“
„Das glaub ich“, sagte Csevi. „Nicht vergessen, geh gleich mal in der Kirche vorbei und dank dem Einen, dass du das so gut überstanden hast.“
„Das werde ich, Sir“, sagte Roland. Dann machte er sich auf den Weg in die Reservation.
Sogar Rüstung und Waffen hatten sie ihm wieder gegeben, nachdem er sich eine angeknackste Rippe eingehandelt hatte. Die Tierpfleger würden erst auf dem Rückweg von Hinterwald etwas zu tun haben, und Langeweile gebar Streit. Roland hatte es im Alleingang geschafft, die fünf Männer zu trennen, noch bevor die Sicherheit eintraf. Belohnung war zwei Wochen Schmerzen beim Atmen und das Vertrauen von Csevi. Der Dämon hatte nichts von sich hören lassen. Vielleicht hatte ihn sein Zauberkunststück zu viel Kraft gekostet. Roland hatte sich kopfüber in jede Arbeit gestürzt, die ihn erschöpft genug zurückließ, dass er von nächtlichen Grübeleien verschont blieb. Was geschehen war, war geschehen. Jetzt blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als den eingeschlagenen Weg bis zum Ende weiter zu gehen. Die Chance zu nutzen, damit er nicht umsonst seine Seele verkauft hatte.
Zu seiner eigenen Überraschung hatte Roland festgestellt, dass es ihm sehr viel schwerer fiel als früher, die alte Rolle des tumben Toren auszufüllen. Ob er an Erwins sehr viel effizientere Trainingsmethoden dachte oder an sein eigenes Fortbildungsprogramm für gelangweilte Jugendliche – zum ersten Mal musste sich Roland Beagle zusammennehmen, um nicht die Klappe aufzureißen. Ein paar Monate an der Spitze der Hierarchie zu stehen, hatte ihn offenbar verwöhnt.
Rolands Rüstungsstiefel platschten durch die Schlaglöcher der Hauptstraße von Backside. Acht Jahre. Das klang gar nicht besonders lang. Aber Roland kam es wie eine Ewigkeit vor, dass er als 14-Jähriger hinter seinem Vater her Richtung Dock geschlurft war, die Angst hinter einem bockigen Gesichtsausdruck versteckt. Die erste Reise mit einem Raumschiff, in ein Internat, das er schon jetzt hasste, mit Heimweh im Bauch, noch bevor er überhaupt an Bord eingecheckt hatte. Die „Blaue Sardine“ mochte die wenig lukrative Handelsroute der „Kontor“ übernommen haben, ansonsten hatte sich in dem kleinen Raumhafen nichts verändert. Zumindest nahm Roland das an, obwohl er die Stadt nun mit ganz anderen Augen betrachtete. Die Kaserne neben den Docks hatte erstaunlich viel Aufwand betrieben, sich und das Hafengelände zu sichern, wenn man bedachte, dass Hinterwald offiziell nur eine Tox-Reservation mit ein wenig Land- und Forstwirtschaft war. Die Überwachungskameras waren auf dem neusten Stand und Roland war sich sicher, mindestens einmal eine Drohne gesehen zu haben, die in Richtung Waldrand davonflog. Er musste dreimal seine funkelnagelneue ID vorzeigen, doch er sah vorerst keine Möglichkeit, seine auffällige Rüstung gegen normale Kleidung zu tauschen. Csevi hatte zwar eine spontane Sammlung veranstaltet, damit sein „blinder Passagier“ nicht ohne einen einzigen ImpGi am Arsch des Universums strandete, aber Roland wollte so schnell wie möglich aus der Stadt raus, bevor die Geschichte vom dämonischen Reisebüro die Runde machte. Sein Plan war schon unmöglich genug.
Er hatte versucht zu planen. Doch für das, was er vorhatte, hätte er Bridgets fachlichen Verstand gebraucht. Ganz zu schweigen vom kompletten Kolumbinischen Aufklärunsbataillon samt Spinnen und schweren Waffen. Aber er war nun mal auf sich allein gestellt.
Doch nicht mehr lange. Hoffte Roland zumindest.

Alles beim Alten, alles anders. Dieses Gefühl hatte Roland schon in Backside beschlichen. Als er zwei Tage später vor dem Torbogen zum Anwesen seiner Eltern stand, war es übermächtig. Warum hatte er nie über diese Schotts nachgedacht, mit denen sich Haus, Labor und Krankenstation offenbar blitzschnell abriegeln ließen? Hatte ein Jugendlicher so naiv sein können zu glauben, er könnte sich heimlich ins Tox-Dorf wegschleichen, wenn überall Bewegungsmelder installiert waren? Vage erinnerte er sich an eine große Kantine für gepanzerte Sicherheitsleute, die er aber nur selten draußen hatte patrouillieren sehen. Geheimdienst – eine ganze Bande á la Bridget, wahrscheinlich. Wenn seine Eltern wirklich Wert darauf gelegt hätten, ihn in ihrer Nähe festzuhalten, wäre es ihnen ein Leichtes gewesen. Wahrscheinlich waren in diesem Moment mehrere Augenpaare und eventuell auch Waffen auf ihn gerichtet, als er an den elektronischen Portier herantrat und klingelte.
„Bitte halten Sie Ihre ID bereit“, sagte eine Computerstimme.
„Entschuldigung, aber damit gab’s leider eine technische Störung bei meiner letzten Chaosreise“, sagte Roland.
„Halten Sie Ihre ID bitte jetzt unter den Scanner“, sagte der Computer.
„Geht nicht, du dämlicher Kasten“, sagte Roland. „Lass mich mit einem Menschen reden.“
„Der Scanner befindet sich links von Ihnen“, sagte der Computer.
Roland fluchte. Dagegen war das IT-System der Ährengarde eine absolute Intelligenzbestie!
„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“
Roland hatte sich genug unter Kontrolle, um nicht Richtung Gürtel zu greifen, als der Wachposten plötzlich neben ihm auftauchte. „Ja, gut, dass Sie da sind. Ich...“
„Roland!“ Der Mann ließ seinen Helm in die Rüstung zurückfahren. „Ich fass es nicht! Du bist ja ein Riesenkerl geworden.“ Sein Blick wanderte an Roland herunter, dann lachte er. „Aber immer noch ohne Schuhe.“
Roland sah auf das vertraute Gesicht herab. Seltsam, es aus dieser Perspektive zu betrachten. Der Mann befand sich schon in den Diensten der Beagles, solange sich Roland erinnern konnte – ein Koloss, der ihn gutmütig davon scheuchte, wenn er... Ja, wenn er was nicht sehen sollte? „Mister McCoy! Schön, Sie zu sehen.“
„Ah, also hast du uns nicht komplett vergessen.“ McCoy klopfte ihm vorsichtig mit seiner gepanzerten Hand auf den Rücken. Wie zufällig streifte sein Arm Rolands Hüfte. Mehr Waffen als die Machete, die er sehen kann, wird er nicht finden. „Macht dir der Computer Ärger?“
„Meine ID ist leider durch einen Chaoseffekt gelöscht worden“, sagte Roland.
„Verdammtes Chaos“, sagte McCoy. „Ich weiß schon, warum ich mir so einen gemütlichen Posten ohne Reiseverpflichtung ausgesucht hab. Weiß deine Mutter, dass du kommst?“
„Nein.“ Roland fühlte seinen Magen wie einen Klumpen Eis zwischen seinen anderen Gedärmen herum rumpeln.
McCoy wiegte den Kopf. „Hm, ja, nicht einfach, so, wie du dich aus dem Staub gemacht hast, was? Aber ich bin sicher, sie freut sich, dich zu sehen.“ Er wandte sich ab und sprach in sein Intercom.
Roland hätte McCoy gerne gesagt, dass er ein schlechter Lügner war. Aber wozu? Um diese Konfrontation kam er nicht herum. Bleib ruhig, sagte er sich. Ja, diese Frau hat die furchtbarsten Dinge getan. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt.
Während er hinter McCoy herging, erlaubte sich Roland den Tagtraum, Agnes könnte sich wirklich freuen, ihn zu sehen. Ihrem Sohn zum ersten Mal in seinem Leben wirklich zuhören. Sich von ihm überzeugen lassen... Nein, so weit reichte Rolands Fantasie dann doch nicht. Und Agnes‘ Gesichtsausdruck, als er ihr Büro betrat, ließ jede Illusion endgültig sterben. Früher hatten diese steilen Falten auf der Stirn, der verächtliche Zug im Mundwinkel und die blitzenden Augen Roland dazu gebracht, den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, zu warten, bis der Sturm über ihn hinweggefegt war, und sich bei der erstbesten Gelegenheit in den Wald zu verdrücken.
„Danke, Mister McCoy“, sagte Agnes. „Bitte warten Sie draußen.“
Als die Tür hinter dem Wachposten zuzischte, musterten sich Mutter und Sohn stumm. Ja, das ist sie, genau, wie ich sie in Erinnerung habe, dachte Roland. Dieser Blick, der jedes Wort in deiner Kehle verdorren lässt. Der strenge Knoten, als ob selbst ihre Haare Angst hätten, aus der Reihe zu tanzen. Sie sind vielleicht ein bisschen grauer geworden, aber das ist auch schon alles. War das eine Frau, die über einen Berg aus Leichen schritt, den Blick immer aufs Ziel gerichtet? Absolut. Was trieb sie an? Menschenliebe wohl kaum.
„Du hast ja Nerven, Roland“, sagte Agnes. Roland spürte ihren Ärger darüber, dass sie das Schweigen zuerst gebrochen hatte. „Vor fünf Jahren verschwindest du einfach so von der Bildfläche, ohne ein Wort. Und jetzt tauchst du aus dem heiteren Himmel wieder auf und schaffst es nicht mal, anständig zu grüßen.“
„Hallo, Agnes“, sagte Roland.
„Das ist alles?“ Sie kam mit kurzen, steifen Schritten um den Tisch herum. „Keine Entschuldigung? Keine Erklärung? Denkst du, ich habe mir keine Sorgen um dich gemacht?“
Fast hätte Roland „Ja“ gesagt. Er schluckte es schnell hinunter. „Tut mir leid“, sagte er.
„Wo warst du überhaupt?“ Agnes stand nun so dicht vor ihm, dass Roland den Hauch von Desinfektionsmittel wahrnahm, der sie immer umgab. „Du kannst nur mit der Blauen Sardine gekommen sein, vor drei Tagen! Bist du wieder im Dorf gewesen? Statt deine Familie zu begrüßen, rennst du als erstes zu den Tox?“
Netter Versuch, Agnes, dachte Roland. Aber du hast eine grundlegende Lektion bei der Gefühlsmanipulation übersprungen: die Belohnung. Eine Umarmung. Ein Lob. Gibt es dafür beim Geheimdienst keine Kurse? Er zuckte mit den Schultern und senkte den Blick auf seine Füße. „Ich denke, ich hatte ein wenig Angst.“
Ihre Schultern hoben sich unter einem tiefen Atemzug. Als sie weitersprach, war ihre Stimme beherrscht. „Komm mit mir zur Krankenstation“, sagte sie. „Ich traue diesem Quacksalber auf der Sardine kaum zu, eine Chaosmutation von einem Hautausschlag zu unterscheiden. Ich checke dich kurz durch, dann essen wir etwas und reden.“
In der Krankenstation lag ein Roland unbekannter Tox, dessen rasierter Schädel eine hässliche Narbe zierte. „Er ist vom Baum gefallen“, sagte Agnes im Vorbeigehen. „Wir beobachten ihn noch eine Weile, ob er Gehirnschäden davongetragen hat.“ Roland ließ den Blick durch den Raum schweifen, während er sich mit hochgekrempelten Ärmeln auf eine Pritsche setzte. Hatte sie es hier getan? Tox-Müttern ihre Embryonen entrissen, um sie zu manipulieren? Anderen die verkorksten Eizellen eingepflanzt, damit ein paar Monate später Ungeheuer mit Facettenaugen sich einen Weg aus ihren Bäuchen fraßen? Nein, nicht hier. Das hier war die Fassade. Die guten Menschen, die sich aus reinem Enthusiasmus um die vom Aussterben bedrohten, friedlichen Aliens kümmerten. Diese armen, rückständigen Wesen, die nicht mal vernünftige Technik besaßen.
Als Agnes seine Blutprobe in den DNA-Analysator schob, musste Roland ein Grinsen unterdrücken. Seine Mutter brauchte nicht zu wissen, dass er die Apparate genau kannte und eine ziemlich gute Vorstellung davon hatte, was ihr Gesundheitscheck tatsächlich war. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass der verlorene Sohn kein Klon oder plastisch veränderter Spion eines Konkurrenten war, wurde ihr Verhalten nicht herzlicher, aber sie sprach mehr. „Du hast dir das Schwänzchen wegoperieren lassen“, stellte sie fest. „Ich dachte ja, es ist gut für deinen Charakter, dich mit deiner Umwelt über diese Mutation auseinander zu setzen. Ging es um eine Frau?“
„Ja“, sagte Roland und merkte, dass er rot wurde.
„Ah, und ich dachte schon, etwas anderes als Tox interessiert dich nicht. Ist was draus geworden?“
Roland dachte an Ramona. Schwanger, ängstlich im Chaos, das vorsichtige Vertrauen, das sie in den vergangenen Wochen gefasst zu haben schien. „Nicht wirklich“, sagte er. Juro passt auf sie auf. Er mag sie nicht, aber er wird sie beschützen. Beide beschützen. Der Dämon hat erreicht, was er wollte und wird sie in Ruhe lassen. Ohne mich sind sie besser dran. „Wo ist eigentlich Leopold?“
Agnes schnaubte. „Dir fällt ja früh ein, nach deinem Vater zu fragen.“ Sie drehte ihm den Rücken zu, um ein paar Instrumente wegzuräumen. „Er ist tot“, sagte sie. „Ein Herzinfarkt. Kurz nachdem uns Direktor Pirotte von deinem Verschwinden unterrichtet hat.“
Und wieder landet Agnes Beagle ein Tor, meine Damen und Herren. Sie ist heute groß in Form! „Das... das tut mir leid“, sagte Roland. Wie viel hatte Leopold gewusst? Der große Mann mit den gebeugten Schultern, der ständig von seinen Kontakten nach „Ganz Oben“ sprach? Sie haben sich im Studium kennengelernt und gemeinsam geforscht, du Depp. Rate mal, welches Thema sie zusammen gebracht hat! ‘‘Einer weniger...‘‘
Der letzte Gedanke gab Roland einen schärferen Stich als die Todesnachricht selbst. Juro wäre entsetzt. Sein Freund schien nicht traurig darüber zu sein, dem Gravitationsfeld seines Vaters entkommen zu sein, aber er liebte seine Familie. Du sollst Vater und Mutter ehren – der Dämon hatte sein Ziel mit Bedacht gewählt.
„Es gibt noch etwas“, sagte Agnes. „Ich möchte dir jemanden vorstellen.“
Sie führte ihn in einen Nebenbau, der offenbar nach seiner Abreise zum Internat dazu gekommen war. Das Häuschen war vielleicht etwas größer als Rolands Quartier auf der Full Moon Rising und zweckmäßig eingerichtet. Ergonomische Stühle am Fiberglastisch, ein moderner Lebensmittelcomputer ersetzte die Kochnische, eine Entertainmentstation, die wie das Cockpit eines Fliegers aussah und bei der Roland nicht mal zu raten wagte, was sie alles draufhatte. Agnes drückte einen Klingelknopf und die Tür zum Nachbarzimmer glitt auf. „Professor Stetson, entschuldigen Sie bitte die Störung“, sagte sie. „Sie können gleich mit dem Unterricht fortfahren.“
Ein Mann mit einem erstaunlich schwarzen, buschigen Schnurrbart, der so gar nicht zu seinen weißen Haaren passen wollte, drückte sich im Türrahmen an Roland vorbei und nickte ihm kurz zu. „Komm rein“, sagte Agnes ungeduldig.
Hatte die Entertainment-Station schon wie ein Cockpit ausgesehen, dann war das Studierzimmer die Schaltzentrale einer ganzen Raumschiffflotte – falls es sowas überhaupt gab. Kein einziges Buch, nur Bildschirme, Hologramme, Animationen. Und mittendrin saß ein kleiner Junge, dessen knubbelige Finger durch die Luft tanzten, während sein Blick von einer Anzeige zur anderen huschte. Roland blieb so plötzlich stehen, dass er den Luftzug der Tür spürte, als sie sich hinter seinem Rücken schloss. Er starrte das runde Kindergesicht an. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.
„Entschuldige, Mutter“, sagte der Kleine. „Das hier ist eine Aufgabe, die ich ungern unterbrechen möchte. Darf ich dich bitten, einen Moment zu warten?“
„Aber natürlich. Fahre nur fort.“
Roland hatte vielleicht die Statur seines Vaters, aber dieser Junge war Leopolds absolutes Ebenbild. Hätte er nicht Agnes‘ schmalen Körperbau geerbt, Roland hätte geglaubt, seine Mutter habe ihren verstorbenen Mann geklont. Roland blickte zu Agnes hinüber und glaubte, so etwas wie ein schadenfrohes Grinsen über ihre Züge huschen zu sehen.
„So“, sagte der Junge – wie alt mochte er sein? Fünf, sechs Jahre? – und breitete die Arme aus wie ein Dirigent beim Schlussakkord einer Symphonie. „Ich denke, an dieser Simulation wird Professor Stetson keinen Fehler finden.“
„Genug“, sagte Agnes. „Carolus, ich möchte, dass du unseren Gast begrüßt. Das ist dein Bruder Roland.“
Carolus warf Roland einen kurzen Blick zu und wandte sich dann zu seiner Mutter um. „Du hast mir nie gesagt, dass ich einen Bruder habe.“ Seine Stimme klang weder vorwurfsvoll noch verriet sie irgendwelche anderen Emotionen.
„Bisher war diese Information nicht relevant“, sagte Agnes. „Kurz nach deiner Geburt hielt es dein Bruder für angebracht, sich auf ein Raumschiff zu schmuggeln und aus unserem Leben zu verschwinden. Ich haben kaum damit gerechnet, dass er noch einmal hier auftauchen würde.“
Carolus‘ Kopf fuhr wieder zu Roland herum und dieser sah zu seiner Erleichterung eine Spur kindlicher Begeisterung. „Du warst auf einem Raumschiff? Bist du durchs Chaos gereist? Welche Planeten hast du gesehen?“
„Also...“, setzte Roland an.
„Manieren, Carolus“, unterbrach Agnes. „Ich bat dich nur, ihn zu begrüßen. Für ein Gespräch ist nach dem Unterricht Zeit.“
Der Kleine kletterte von seinem Schreibtischstuhl und hielt Roland seine Hand hin. „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Roland“, sagte er.
Roland nahm die kleinen Finger in seine große Pranke und schüttelte sie sacht. „Dito, Carolus“, sagte er.
Der Junge... sein Bruder sah etwas irritiert aus. Aber bevor er den Mund öffnen könnte, räusperte sich Agnes. „Ich werde den Professor wieder herein rufen. Wir sehen uns beim Abendessen.“
Als sie wieder im Hof standen, konnte sich Roland nicht mehr beherrschen. „Ich hab einen kleinen Bruder gekriegt und du hast mir nichts gesagt?“
Agnes Lächeln war rasiermesserdünn. „Wozu? Bei deinen schulischen Leistungen konntest du eine Ablenkung kaum vertragen.“ Sie ging ein paar Schritte und drehte sich dann noch einmal zu ihrem älteren Sohn um. „Wir haben Fehler gemacht mit dir“, sagte sie. „Wir haben uns zu sehr auf die Arbeit konzentriert und zugelassen, dass du wild in der Gegend herumgestromert bist. Das wird sich bei Carolus garantiert nicht wiederholen.“
Roland war sich nicht sicher, ob seine ausdruckslose Maske an ihrem Platz war. Ich hasse dich so, dachte er. Der arme Junge.

Natürlich kam beim Abendessen keine wirkliche Unterhaltung zustande. Roland fühlte sich beengt in dem Hemd, das über seinen Schultern spannte. Agnes hatte sämtliche Kleider von Leopold weggeworfen, also hatte sie einen Assistenten nach Backside geschickt, um Roland etwas zum Wechseln zu besorgen. „Diesen Overall können wir eigentlich nur noch verbrennen“, hatte sie gesagt.
Roland stocherte in seinem Fertiggericht herum und versuchte, in seiner Erinnerung Anekdoten zu finden, die seinen kleinen Bruder interessieren könnten, ohne Agnes zu viel zu verraten. Er versuchte es mit der Beschreibung von Hütegreifen und Basiliskenwölfen – ohne zu sagen, wo ihm diese exotischen Tiere begegnet waren –, aber Carolus lächelte nur höflich. „Es reicht mit diesem Viehzeug“, hatte Agnes schließlich gesagt und angefangen, ihn über seine Reiserouten auszufragen. Roland gab vor, sich nicht richtig erinnern zu können und sparte die vergangenen sechs Monate komplett aus, bis sie von seiner allgemeinen Unfähigkeit aufs Neue überzeugt zu sein schien. Die Enttäuschung in Carolus‘ Augen schmerzte ihn mehr, als sich Roland selbst eingestehen wollte.
Am nächsten Nachmittag wurde Graufell in die Krankenstation eingeliefert. Seine Familie hatte ihn bewusstlos auf einem Travois herbeigeschafft, der von zwei stämmigen Widdern gezogen wurde. In einer gebrochenen Mischung aus Toxanisch und Imperial machten sie Agnes verständlich, dass er plötzlich mit Zuckungen umgefallen und seither nicht mehr aufgewacht war. Roland schaute mit klopfendem Herzen von der Tür der Krankenstation aus zu, wie seine Mutter einige Standardtests machte. Natürlich erkannte sie das Tox-Kind nicht wieder, das Roland gelegentlich in sein Elternhaus begleitet hatte. Sie mochte Akten über verschiedene Bewohner von Hinterwald haben, aber wenn sie nicht ihr Blutbild vor der Nase hatte, war für sie ein Alien wie das andere. Zumindest zeigte dieses Blutbild nichts Ungewöhnliches an. „Morgen machen wir weiter“, sagte Agnes schließlich zur Krankenschwester. „Er ist wenigstens stabil.“
Als Roland ein paar Stunden später in der Dunkelheit neben Graufells Bett stand, machte er sich langsam Sorgen. Das Betäubungsmittel, das er in seinem Erste-Hilfe-Paket von der Full Moon Rising mitgebracht hatte, sollte seine Wirkung längst verloren haben. Hatte sich der Arzt auf der Sardine geirrt, als er sagte, der Inhalt sei völlig in Ordnung? Das würde genau zum Humor des Dämons passen – dass Roland seinen besten Freund vergiftet hatte... In diesem Moment schlossen sich haarige Finger um sein Handgelenk und drückten es kurz. Erleichtert drehte Roland sich so, dass sein Rücken die Apparaturen vor der Überwachungskamera verdeckte, und begann, sie abzuschalten. Nichts piepte, nichts versetzte den Nachtdienst in Alarm – ein Glück.
Kaum war er von den Drähten befreit, wälzte sich Graufell elegant wie eine Schlange aus dem Bett und ging dahinter in Deckung. Roland zog sein Kopfkissen unter seinem Hemd hervor und stopfte das Laken aus. Ein Trick, so alt wie die Menschheit – aber wenn sie sich beeilten, sollte das reichen. Graufell nutzte die Schatten, um auf allen Vieren zum Ausgang zu krabbeln. Erst im Türrahmen richtete er sich auf. Roland warf noch einen Blick auf den fremden Tox mit der Narbe, bevor er ihm folgte. „Wuff, wuff“, knurrte Graufell. „Beim nächsten Mal nutze ich die günstige Position, um dir mal kräftig in den Hintern zu beißen.“
„Bei Fuß, mein Hundchen“, flüsterte Roland zurück und führte seinen Freund auf einer Zick-Zack-Route durch die toten Winkel des Überwachungssystems. Er hatte den Tag damit verbracht, es gründlich auszutesten. Draußen war es lückenlos, ebenso in der Nähe des Labors, zu dem er keinen Zugang hatte. Im repräsentativen Teil des Anwesens hatten sich die Beagles mit dem Notwendigsten begnügt. Und in Leopolds altem Büro gab es überhaupt keine unerwünschten Augen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, machte sich Graufell an die Arbeit.
In seinen dunkelsten Träumen hatte Roland sich ausgemalt, wie das Tox-Dorf heute aussah: ein Gefangenenlager mit Stromzäunen, ein riesiger Laborkomplex mit Einzelzellen, in denen ausgemergelte Tox saßen, das Fell in Fetzen, die Augen tot... Aber warum sollte sich Agnes die Mühe machen und die Reservation in einen Knast verwandeln? Es genügte, wenn sie dafür sorgte, dass kein Tox den Planeten über den einzigen Raumhafen verließ. Falls überhaupt einer das Bedürfnis dazu haben sollte. Schließlich ging es ihnen hier gut, sie waren sicher und konnten weitgehend ungestört ihre Kultur pflegen.
Deshalb hatte es auch zwei Tage gedauert, seine Familie und die Dorfältesten davon zu überzeugen, was in dem Stützpunkt seiner Eltern wirklich vorging. Papaya hatte ihn schon früher scharf zurechtgewiesen, wenn er schlecht über seine Mutter sprach. Schließlich war es Graufell gewesen, der den Ausschlag gab. Sein Freund war im Gegensatz zu Roland nie zufrieden damit gewesen, mit den anderen zu fischen, die Widder zu hüten und im Wald zu übernachten. Ohne den Sohn der Beagles war es für ihn nicht mehr so einfach, an einen Computer heran zu kommen. Doch mit Hilfe von ein paar gutmütigen Backside-Bewohnern, die das ganze heillos lustig fanden und nicht annähernd verstanden, was das haarige Bündel da tat, hatte er seine Hacker-Fähigkeiten weiter verfeinert. Agnes‘ System war das einzige, an dem sich zu üben lohnte – und deshalb war Graufell früher oder später auf seltsame Hinweise gestoßen, die nun mit Rolands Erzählungen ein scheußlich klares Bild ergaben.
Ahne Rotzeder war so entsetzt gewesen, dass Roland fürchtete, er könnte einen Herzinfarkt erleiden. Deshalb hatte er sich darauf beschränkt, seiner Familie zu versichern, er werde versuchen, seine Mutter von ihrem Vorhaben abzubringen. Er sagte nur Graufell, was er wirklich plante. Und vertraute ihm die Laserwaffe an. „Ich hab leider gelernt, dass Worte irgendwann einfach nicht mehr helfen“, hatte Roland gesagt. „Warnt die anderen Dörfer, ja?“
Und was sollen sie tun?, fragte sich Roland, während er Graufell dabei beobachtete, wie er konzentriert auf den Computerbildschirm starrte. Mit einer Laserpistole gegen den ganzen Geheimdienst kämpfen? Zehn Millionen Tox, die kaum mehr als eine spielerische Rangelei durchgemacht haben, gegen ausgebildete Soldaten? Nein, ihre größte Chance war, einfach unsichtbar zu werden. Zu schwer zu finden in dem Wald, ein zu großer Aufwand für ein Projekt mit zweifelhaften Erfolgsaussichten. Vor allem, wenn es einen empfindlichen Rückschlag erlitt. Und wenn deshalb noch Milliarden Menschen mehr bei Brahim-Angriffen starben? Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten...
„Ich bin drin“, sagte Graufell. „Ich kann dir nur die grundlegendsten Funktionen zeigen. Aufbau der Station, Verteidigung, Kameras – wenn ich was verändern wollte, wird’s ein bisschen schwieriger. Soll ich nicht doch mal versuchen, einen Virus...“
„Nein, das wird sofort auffallen, fürchte ich“, sagte Roland. „Ist das hier der Hauptrechner?“ Er tippte auf den Plan und das Bild fing sofort an zu flackern.
„Finger weg, du menschliches Störfeld!“, sagte Graufell. „Ja, der steht in einem unterirdischen Bunker. Keine Verbindung zum allgemeinen Netz. Ich könnte...“
„Lass es, du Riesenhamster“, sagte Roland. „Mir langt es schon, wenn du mich da rein bringst.“
Graufells Ohren lagen dicht am Kopf an. „Roland, gibt es keinen anderen Weg?“
Ich könnte auf die Sardine steigen und einfach wegfliegen. Könnte versuchen, den Asteroiden zu erreichen, wenn die Ährengarde den Raumhafen aufgebaut hat. Anouk wäre dann schon geboren. Roland seufzte. „Ich sehe keinen anderen.“

Roland hatte gerade Hausmeister Toto, der ein Stück Gartenzaun reparierte, einen Kaffee vorbei gebracht, als Agnes plötzlich hinter ihm stand. „Wir müssen uns unterhalten“, sagte sie. Roland sah über ihre Schulter hinweg McCoy am Torbogen stehen. Er wandte ihnen beiden den Rücken auffällig desinteressiert zu. Wir sind aufgeflogen, schoss es Roland durch den Sinn. Graufell hat eine Spur übersehen, sie hat das Betäubungsmittel auf irgendeiner Anzeige entdeckt... Mit schweren Füßen folgte er seiner Mutter in ihr Büro. Er hatte wenig geschlafen in der letzten Nacht. Er hatte versucht zu beten, aber am Ende hatte er nur in Gedanken Gespräche geführt. Mit Juro. Mit Ramona. Mit Xandra und Sandrose. Sogar mit Professor Becker.
Agnes setzte sich hinter ihren großen Tisch und winkte Roland, auf dem Besucherstuhl Platz zu nehmen. „Warum bist du unter falschem Namen gereist?“, fragte sie.
Roland ließ sich auf den Stuhl fallen, seine Knie zitterten leicht. „Warum...?“ Er verstummte, weil ihm nichts einfiel.
„Wie bist du auf die Blaue Sardine gekommen?“, fuhr Agnes ungeduldig fort. „Weder auf der Besatzungs- noch auf der Passagierliste gibt es einen Roland Beagle. Stattdessen sucht Bruder Franzl ganz Backside nach einem Hassan Falkoni ab, der im Chaos plötzlich auf dem Schiff auftauchte und sich gleich nach der Ankunft auf Hinterwald in Luft aufgelöst hat.“
„Ah“, sagte Roland und setzte sich auf. „Ich muss sagen, der imperiale Geheimdienst enttäuscht mich ein wenig. Ich dachte, das kriegst du schneller raus.“
Vielleicht war es nur die Überraschung, die Agnes in diesem Augenblick davon abhielt, den Alarmknopf zu drücken. Sie starrte ihren Sohn an, als hätte er sich vor ihren Augen in einen Brahim verwandelt.
„Ich wollte nicht, dass der Name Beagle mit diesem kleinen... Chaos in Verbindung gebracht wird“, sagte Roland. „Du arbeitest immerhin an einem Projekt der höchsten Geheimhaltungsstufe.“
Agnes Hand zuckte von etwas am Rand der Tischplatte zurück. „Tue ich das?“, fragte sie. „Erheitere mich mit deiner Geschichte. Sie klingt definitiv interessanter als das, was du über dieses Viehzeug erzählt hast.“
„Wirklich ein Pech, dass eine Ladung Superspione im Chaos verloren ging, nicht wahr? Sind die anderen schon im Einsatz bei den Brahim? Oder haben die deine... sorgfältige Arbeit durchschaut?“ Roland sprang auf und stützte beide Hände auf der Tischplatte ab. „Wie kannst du den Tox nur so was antun?“, zischte er. „Du weißt wahrscheinlich mehr über sie als jeder andere Mensch im Universum. Wie kannst du nicht angerührt sein von ihrem Familiensinn, ihrer Friedlichkeit?“ Er schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, atmete tief durch und zwang sich wieder zum Sitzen.
„Das ist so typisch Roland“, sagte Agnes und lehnte sich zurück. „Deine Gefühle stehen dir im Weg. Du bist zu dumm zu sehen, was nötig ist.“ Sie zog eine Laserpistole aus der Schreibtischschublade und legte sie vor sich hin. „Aber ich gebe zu, du hast mich überrascht. Wie bist du an diese Informationen gekommen?“
Roland sah die Pistole an und breitete mit einem schiefen Grinsen die Arme aus. Es war deutlich zu sehen, dass er heute nicht mal die Machete bei sich trug. „Fünf Jahre Reisen war mir ein besserer Lehrer als drei Jahre Paracelsus“, sagte er. „Man schnappt auf dem Weg so einiges auf. Lernt ein paar Tricks.“
Er sagte das Codewort, das ihm Graufell genannt hatte, die Bürotür sprang auf und ein verwirrter McCoy spähte hinein. „Sir, brauchen Sie mich?“, fragte er.
Agnes zögerte nur kurz. „In der Tat, Mister McCoy“, sagte sie. „Begleiten Sie mich und meinen Sohn.“ Sie stand auf, steckte die Pistole in die Tasche ihres Laborkittels und ging Richtung Tür, ohne sich zu vergewissern, ob Roland ihr folgte.
Mit drei langen Schritten hatte er sie eingeholt. „Also gut, du hast ein paar Tricks gelernt“, sagte sie leise, während sie den Gang entlang liefen. „Wahrscheinlich hast du den Türcode geknackt und eine Wanze an den Hauptcomputer angeschlossen. Du wirst mir sofort zeigen, wo! Ich werde unter keinen Umständen zulassen, dass diese Informationen nach außen dringen, Roland. Unter. Keinen. Umständen.“
Roland schauderte und warf einen Blick über die Schulter auf McCoy. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser so mir nichts, dir nichts den Jungen über den Haufen schießen würde, den er von Geburt an kannte. Aber zur Not würde Agnes die Dreckarbeit einfach selbst erledigen.
Vielleicht war das auch ihr Gedanke, denn vor der Tür zum Computerbunker befahl sie McCoy, draußen zu warten.
„Soll ich öffnen?“, fragte Roland.
„Sehr witzig“, sagte Agnes und tippte den Code ein.
Als er seiner Mutter über die Türschwelle folgte, fühlte sich Roland plötzlich völlig ruhig. Die Stimme in seinem Hinterkopf, die ihm immer Vorwürfe machte, Zweifel säte, ihn auslachte, war verstummt. Den Weg bis zum Ende gehen. Das Licht sprang an und erhellte einen kleinen Raum, der fast vollständig von einem Computerkomplex ausgefüllt wurde. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, wandte sich Agnes einer kaum handgroßen Anzeige zu und begann zu tippen. „Na los, Roland“, sagte sie, ohne den Blick zu heben. „Was hast du gemacht?“
Roland ließ den Blick über die Wand schweifen, bis er die Stelle gefunden hatte, die er suchte. Er zog das Allround-Laserwerkzeug aus der Tasche, das er aus dem Kasten des Hausmeisters eingesteckt hatte, und begann, die Platte zu lösen. „Oh, dein Computersystem ist eine echt harte Nuss“, sagte er. „Deshalb hab ich gar nicht versucht, mich von außen einzuhacken.“
„So soll es auch sein“, sagte Agnes und rief eine neue Statusmeldung auf. „Bisher hat dein mechanisches Spielzeug auch noch keinen Schaden angerichtet. Trotzdem wäre ich dir dankbar, wenn du es jetzt entfernen könntest.“
Vorsichtig hob Roland die Platte aus ihrer Halterung und legte die Kabel frei, die dahinter verliefen. „Es freut mich, dass du mir zutraust, ich hätte es geschafft, mir Zugang zu deinem Bunker hier zu verschaffen“, sagte er. „Aber zu mehr als deiner Bürotür hat es leider nicht gereicht. Das meinte ich nicht mit Tricks, die ich unterwegs aufgeschnappt habe.“ Er zog die Kabel zur Seite, bis er an einem dickeren Strang angelangt war. „Diesen hier hab ich von jemandem gelernt, der nicht mal die einfachsten Warnhinweise lesen konnte.“
Agnes drehte sich zu ihm um und fing an, die Pistole aus ihrer Tasche zu nesteln.
Roland dachte daran, wie es gewesen war, mit einer wunderschönen Frau im Arm durch die Sterne zu fliegen. Er lächelte und rammte den Schraubenzieher in die Plasmaleitung.

Der kleine Junge stand am Eingang des Tox-Dorfes. Eine Hand lag auf der Lehmwand, als müsste er sich stützen. In der anderen hielt er einen Zettel – ein Blatt Papier. Bisher hatte er so was nie in der Hand gehabt. Die Schrift darauf war nicht leicht zu entziffern gewesen. Winzige, dicht gedrängte Buchstaben. „So viel zu erzählen und so wenig Zeit...“ begannen die Zeilen. Carolus‘ Unterlippe zitterte. Es war so viel passiert in den vergangenen Tagen. Und keiner hatte sich die Mühe gemacht, ihm etwas zu erklären. Bis er den Zettel gefunden hatte, in einem kleinen Lederbeutel unter seinem Kopfkissen. Dieser seltsame Beutel, den Roland beim Abendessen um den Hals getragen hatte. Da standen viel coolere Dinge drauf als das, was sein Bruder erzählt hatte. Von zwei Adeligen, die eine ganze Kneipe aufmischten, um eine Tox zu retten. Von einer Expedition in unbekannte Galaxien. Von Motorradwettrennen mit der Polizei. Carolus verstand nicht alles. Warum trauerte Roland einem Mädchen nach, die ihn mit Knochenkrallen angegriffen hatte und erschossen werden musste? Fast hätte Carolus den Zettel weggeworfen. Aber dann hatte er Professor Stetson beim Kofferpacken erwischt. Und Mister McCoy schrie nur noch herum.
„Ha... hallo?“, krächzte Carolus. Dann versuchte er, die Lautschrift auszusprechen, die ihm sein großer Bruder notiert hatte. Er hoffte nur, dass es wirklich „Roland schickt mich, Freunde“ hieß.
Es raschelte und zwischen den leeren Hütten tauchte eine Gestalt auf. Ein Tox mit grauem Fell kam auf ihn zu. Carolus konnte den Ausdruck in dem pelzigen Gesicht nicht lesen. Die großen Augen schimmerten eigenartig. Am liebsten wäre Carolus umgedreht und den ganzen Weg zu seinem Haus zurück gerannt. Dann merkte er, dass dem Tox eine Träne aus dem Augenwinkel sickerte. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Roland hat mir das hier geschrieben“, sagte er auf Imperial und hielt den Zettel hoch. „Er meint, ich kann von euch viel lernen.“
Im nächsten Moment wurde er erstaunlich sanft an ein kuscheliges Brustfell gedrückt. Carolus umklammerte das Blatt Papier, damit es nicht zu Boden fiel. Da stand nämlich noch eine weitere Botschaft drauf, die er nicht verlieren wollte.
„Juro wird kommen und nach mir suchen. Bitte sag ihm, dass es mir leid tut. Und dass er mein bester Freund ist.“


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